Prager Ermittler wollen Verbrechen am Eisernen Vorhang sühnen
Prag/Bärnau. Die Verbrechen ereigneten sich vor unserer Haustür. Zu Zeiten des Eisernen Vorhangs schossen tschechoslowakische Grenzsoldaten auf flüchtende DDR-Bürger, die nach Bayern wollten. Jetzt soll es doch noch zum Prozess gegen einen politisch Verantwortlichen kommen.
Es ist womöglich der letzte Versuch. Ähnlich wie bei den deutschen NS-Prozessen ist es ein Wettlauf mit der Zeit. Die Prager Staatsanwaltschaft hat im April 2024 Anklage gegen Jan Muzikář, einen früheren Oberst des ČSSR-Grenzschutzes, erhoben. Der 89-Jährige war in den 80er Jahren Stabschef. Zum Prozessbeginn wäre er 90 Jahre alt. Als erster Verhandlungstag ist der 11. Juni 2024 am Bezirksgericht Prag 1 angesetzt.
Anklage enthält auch Tod von Johann Dick
Die Anklage enthält zwölf Fälle von Toten und Verletzten. Größtenteils handelt es sich um DDR-Bürger, die über die Tschechoslowakei in den Westen fliehen wollten. Enthalten ist aber auch der Tod von Johann Dick: Der Wanderer aus Amberg in der Oberpfalz war 1986 bei Bärnau erschossen worden, weil man ihn mit einem Flüchtenden verwechselt hatte.
Sechs der Geschädigten leben noch. Der Prager Anwalt Lubomir Müller vertritt einige Opfer oder deren Verwandte. Müller arbeitete bei der Suche nach Angehörigen mit Reinhold Balk aus Kienlohe (Landkreis Amberg-Sulzbach) zusammen.
Balk hat ein profundes Wissen über den Eisernen Vorhang. Er war von 1982 bis 1992 Verantwortlicher in der Grenzschutzabteilung Süd 5 Schwandorf, zuständig für den Grenzabschnitt von der Silberhütte bis zum Osser. Balk recherchiert seit Jahren zu diesem Thema.
Staatsanwaltschaft Weiden involviert
Die Überlebenden sind von deutschen Ermittlern vernommen worden. Die Vernehmungen übernahm die Staatsanwaltschaft Weiden mit Beamten des LKA, wie Oberstaatsanwalt Christian Härtl bestätigt. Er ermittelt seit Jahren mit Unterstützung des Landeskriminalamts zu den Todesfällen am Eisernen Vorhang. Auch zum Prozess will Härtl nach Prag fahren.
Brennender Wunsch nach Freiheit
In der tschechischen Anklage ist das Ergebnis der Vernehmungen nachzulesen. Die Männer und eine Frau, inzwischen 58 bis 70 Jahre alt, berichten von ihrem brennenden Wunsch, in Freiheit leben zu wollen. Die Grenze der Tschechoslowakei nach Bayern erschien ihnen als einzig mögliche Fluchtroute. Ihre Fluchtversuche spielten sich in den 80er Jahren ab.
Beim Überwinden des Zaunes lösten die DDR-Bürger die Singalleitung zur Wache aus. In kürzester Zeit fanden sie sich im Patrouillenfeuer wieder. Eingekreist von bellenden Diensthunden und Grenzsoldaten. Den meisten wurde in die Beine geschossen. Die Grenzsoldaten leisteten keine Erste Hilfe, sondern warfen allenfalls Verbandspäckchen zu.
Drei der angeklagten Vorfälle ereigneten sich an der Grenze zu den Landkreisen Tirschenreuth, Wunsiedel und Cham; nahe Selb, Neualbenreuth und Eisenstein. Von der deutschen Öffentlichkeit blieben sie unbemerkt. Die innere Grenzlinie lag kilometerweit im Landesinneren.
Muzikář gab die Anweisungen
Angeklagt ist Amtsmissbrauch. Detailliert listet die Anklage auf, welche Maßnahmen der Oberst vorschlug, um den „Grenzschutz“ zu verbessern. Beispielsweise sollte die Zeit zwischen dem Auslösen des Signals und dem Eingreifen verkürzt werden. Patrouillen sollten mit Diensthunden den Grenzsaum abgehen. Bei den Grenzsoldaten sollte Wert auf kommunistische Erziehung gelegt werden. Der Hass auf Klassenfeinde sollte gesteigert werden.
Um ein Gefühl für die Größenordnung zu bekommen: 1986 beklagt Muzikář in seinem Jahresbericht, dass von Januar bis November 1985 von 45 Flüchtenden sieben „aufgrund fehlender Kräfte und Mittel die Staatsgrenzen durchbrachen“. Er kündigt verstärkte Maßnahmen an.
Gesundheit wird das große Thema
Wie aus der Anklage hervorgeht, machte der betagte Muzikář während seines Verhörs keine Angaben. In einer Beschwerde gegen die Ermittlungen machte er geltend, an die damaligen Gesetze und den Amtseid gebunden gewesen zu sein.
Auch seine Gesundheit ist natürlich ein Thema. Bisher angestrebte Prozesse scheiterten an der Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten. Im Fall Muzikář liegt ein Gutachten vor, das seine geistige Fähigkeit für ausreichend einstuft.
Die bisherige Verfolgung kommunistischer Funktionäre war nicht erfolgreich. Im Juni 2023 starb Ex-Innenminister Vratislav Vajnar. Zum ersten Verhandlungstag war er nicht gekommen, den zweiten erlebte er nicht mehr. Während der Ermittlungen starben auch Generalsekretär Milous Jakes und Ex-Premierminister Lubomir Strougal. Gegen zwei weitere Funktionäre wurden die Verfahren altersbedingt eingestellt.
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