Schleuser flieht vor Streife: “Ich sollte unter keinen Umständen anhalten”

Leuchtenberg/Weiden. Im Sommer 2023 überschlug sich ein Schleuserfahrzeug an der A6 bei Leuchtenberg und flog 32 Meter durch die Luft. Der Fahrer (20) ließ fünf schwerverletzte Frauen und Kinder zurück. Das wird ihm jetzt zum Verhängnis.

Ein 20-jähriger Georgier muss sich wegen des Vorwurfs einer lebensgefährdenden Schleusung vor dem Landgericht Weiden verantworten. Rechts sein Anwalt Serkan Gürses. Foto: Christine Ascherl

Der Angeklagte Kerim K. sieht aus wie ein halbes Kind. Gerade 20 Jahre war er alt, als er im Sommer 2023 mit einem vollbesetzten Schleuserfahrzeug über die A6 jagte. Auf der Flucht vor einer Streife der Bundespolizei Waidhaus. Der Georgier kam an der Abfahrt Leuchtenberg von der Fahrbahn ab. Das Auto überschlug sich. Die Insassen, eine Mutter mit drei Kindern und eine junge Frau aus der Türkei, erlitten teils schwerste Verletzungen. Und Kerim? Er lief davon.

Das bringt den 20-jährigen Georgier vor die Jugendkammer. Straferwartung: vier Jahre aufwärts. Das Amtsgericht hatte den Fall im Januar an das Landgericht verwiesen, da nach seiner Ansicht ein versuchtes Tötungsdelikt im Raum steht. Seit zehn Monaten sitzt er in Untersuchungshaft. Eine Sozialpädagogin des Stadtjugendamtes Weiden hat den Heranwachsenden dort für die Jugendgerichtshilfe begutachtet. Sie sollte einschätzen, ob Jugendstrafrecht angewandt werden muss.

Problem eines 20-Jährigen: kein Sportzeug in Haft

In diesem Fall gar nicht so einfach. Er ist reif und unreif zugleich. Der junge Mann spricht Aserbaidschanisch und ist in Georgien aufgewachsen. Als er 15 war, starb der Vater. Kerim brach die Schule ab, um als Maler für die herzkranke Mutter zu sorgen. Mit 17 Jahren ging er nach Polen auf den Bau, um Geld zu verdienen. Einerseits hat er Reiferückstände, weil er so wenig Elternhaus abgekommen hat. Andererseits sei er reif für sein Alter, weil er so früh Verantwortung übernehmen musste. In der JVA würde er gern Sport machen, aber hat keine Kleidung dafür.   

Die Arbeit in Polen war hart, er zog weiter nach Berlin, wo er aufgrund fehlender Papiere keine Stelle fand. Landsleute vermittelten ihm den Schleuserjob. 1000 Euro sollte er bekommen, wenn er Migranten illegal von Ungarn nach Deutschland bringt. Kerim K. steht für ein Phänomen des Jahres 2023. Es kam zu etlichen Unfällen bei Schleusungen, mit bis zu sieben Toten auf der A94 bei Altötting (siehe Infokasten). Oft saßen Georgier am Steuer, oft waren sie sehr jung. Sie fuhren ungewohnt rücksichtslos und riskant. Kerim K. sagt, ihm sei eingebläut worden, im Fall einer Kontrolle auf keinen Fall anzuhalten. Die deutsche Polizei werde ihn schlagen und mit ihm machen, was sie wolle.  

Mit Leitern über serbisch-ungarischen Grenzzaun

Kerim K. riskierte das Leben von fünf türkischen Staatsangehörigen, die im Wagen saßen: auf dem Beifahrersitz eine alleinreisende Frau (19); auf der Rückbank eine Mutter mit Tochter (15) und Sohn (10), im Kofferraum kauerte der zweite Sohn (13). Die Insassen hatten eine „Pauschalreise“ gebucht. Zunächst war die Reise per Flugzeug nach Serbien gegangen. Dort brachte sie ein Fahrzeug zur ungarischen Grenze. Bei Nacht und Nebel halfen Schleuser mit einer Leiter über den Zaun. 18 Migranten waren dazu in drei Gruppen aufgeteilt, eine wurde erwischt.

In Ungarn wurden die Türkinnen und die Kinder zunächst in ein schmuddeliges “Safe-House” gebracht und dort nachts um 2 Uhr von Fahrer Kerim K. abgeholt. Die Ermittler der Bundespolizei Waidhaus haben mit Kameradaten aus Tschechien die Route ermittelt. Zwei Schleuser fuhren im Konvoi, begleitet von einem Späh-Fahrzeug. Zwischen Prag und Pilsen verunglückte um 8.18 Uhr eines der Autos. Ein Afghane erlitt dabei tödliche Verletzungen.

Kopflose Flucht: 160 km/h, mehrfach Spurwechsel

Kerim K. fuhr allein weiter. Am Sonntagmorgen, 9.01 Uhr, überquerte er die Grenze bei Waidhaus. Er hatte sein Ziel fast erreicht. Die Türkinnen sollten in Weiden abgesetzt werden. Das Navigationssystem zeigte noch 17 Minuten bis zum Ziel, als einen Kilometer nach dem Autobahnparkplatz Ulrichsberg eine Zollstreife im Rückspiegel erschien. Das Zollfahrzeug setzte sich vor den Chevrolet und ließ die Anhaltesignale blinken. Das führte zur kopflosen Flucht des Georgiers, der bis zu Tempo 160 beschleunigte und mehrfach die Fahrspuren wechselte, ehe er mit Tempo 78 bis 96 von der Abfahrt schoss.

Über seinen Anwalt Serkan Gürses lässt der 20-Jährige am Mittwoch seine Reue beteuern. Beim Anblick der Streife sei er in Panik geraten. Er habe an die Worte seines Auftraggebers gedacht, wonach er „niemals anhalten solle, egal, was passiert“. Nach dem Unfall sei er unter Schock aus dem Auto geklettert und weggelaufen. „Ich habe darauf vertraut, dass die Insassen nicht in Todesgefahr waren.“ Hinter ihm kam die Polizeistreife, die Rettung rufen würde. „Ich bereue die Taten.“

Die Verhandlung wird am 17. April fortgesetzt.

Immer schneller, immer riskanter: Zig Unfälle bei Schleusungen 2023

Der verheerendste Unfall mit sieben Toten ereignete sich im Oktober 2023 auf der Autobahn 94 in Oberbayern. Ein Schleuser (24) floh mit 180 Kilometern pro Stunde vor der Polizei – im Kleintransporter saßen 22 Menschen aus Syrien und der Türkei. An der Abfahrt überschlug sich das Fahrzeug. Alle Insassen wurden schwer verletzt, sieben verstarben, darunter ein Kind (6).

Die Ermittlungen gegen den Fahrer (24) sind noch nicht abgeschlossen, informiert Oberstaatsanwalt Rainer Vietze, Sprecher der Staatsanwaltschaft Traunstein. Es seien noch nicht alle Sachverständigengutachten eingegangen. Der Haftbefehl lautet unter anderem auf siebenfachen Mord, 15-fachen versuchten Mord und das Einschleusen von Ausländern mit Todesfolge.

Das Landgericht Dresden verhängte im März 2024 lebenslange Haft wegen Mordes gegen einen Schleuserfahrer. Der Georgier (24) war im Sommer 2023 bei Pirna auf der A17 bei der Flucht vor der Polizei verunglückt. Er war mit Tempo 120 von der Autobahn in ein Stoppelfeld abgefahren. Bei dem Unfall starb eine Frau (44). Mitangeklagt war ein Tadschike, der einen der anderen Transporter fuhr.

Im September 2023 floh ein georgischer Schleuser (32) bei Altötting auf spektakuläre Weise: Erst gab er Vollgas, um einer Kontrolle der Bundespolizei zu entgehen. Im schwarzen SUV saßen sieben türkische Staatsangehörige, darunter drei Kinder ab einem Jahr. Dann legte er eine Vollbremsung hin, sprang aus dem noch rollenden Auto und floh über die Leitplanke in einen Wald. Ein Hubschrauber der Bundespolizei fand ihn schließlich mit der Wärmebildkamera: Der Georgier war auf einen Baum geklettert und saß in sechs Metern Höhe. Ein Drogentest verlief positiv auf Kokain.

Diese Aufnahme der Polizei zeigt den Georgier im Baum sitzend. Foto: Bundespolizei

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