Schobers-Rock-Kolumne: Alles bunt färbt der Mai

Nordoberpfalz. Auch in Sachen Musik dürfen wir in dieser Ausgabe auf gleich zwei leuchtende und „bunte“ Meisterwerke blicken.

Ein Golden Retriever auf Abwegen

Was Sozialkritik mit hübschen Familienhunden zu tun hat, erklärt uns die schwarze, in Brüssel lebende Sängerin Adja Fassa auf Ihrem Album „Golden Retrieve Her“ (Sdban Ultra) so: „Golden Retrieve Her“ is a wordplay on wanting to retrieve my kindness in a violent social system. Simultaneously, it is criticizing the fact that we, the masses, are often asked to either be naive or pretend we are. All of this accumulated in a visual image of what our social system considers ‚the perfect, obedient nuclear family‘: a kind couple with 2.4 children, a house in suburban areas and… a Golden Retriever.“ Alles klar? Etwas augenzwinkernd und versteckt in Alltagsgeschichten beschreiben diese elf Songs den Einfluss unserer kapitalistischen Gesellschaft auf unsere intimsten Momente, „Golden Retrieve Her“ ist also eines dieser seltenen, politischen Soul-Alben ohne den Zeigefinger all zu hoch zu erheben. Man lauscht ihm sowieso wegen dieser atemraubenden Stimmakrobatik die ein wenig an Flora Purin erinnert, wegen diesem locker perlendem, schillerndem Mix aus R&B, Neo-Soul, und Jazz, das sie vielschichtig und abwechslungsreich mit 13 Musikern eingespielt hat.

Kraftvoller Indie-Rock mit Chartstauglichkeit

Nicht ganz so sozialkritisch, dafür eher kritisch mit sich selbst gehen The Amazons ans Werk. Die Hausband von Amazon (Spaß!) bezieht sich auf „21st Century Fiction“ (Nettwerk) sowohl auf das Hinterfragen des gesellschaftlichen Konstrukts, dass „ein Universitätsabschluss, ein Job, der Kauf eines Hauses und finanzielle Sicherheit“ ein gottgegebenes Recht seien, als auch auf eine größere, umfassendere Abrechnung. „Es gibt diese tägliche Navigation zwischen Fakten und Fiktion, die von uns verlangt wird: Unser Diskurs ist verdreht, verzerrt, und ich glaube nicht, dass das besonders gute Ergebnisse liefert – denn der Durchschnittsmensch muss dabei unglaublich viel schultern“ gibt Frontmann Matt Thomson dazu zu Protokoll. Die Top-10-Abonnenten verpacken ihr bis dato dystoptischtes Werk in eine Mischung aus klassischem Rock der 70er, Alternative Rock der 90er und frühen 2000er, gewürzt mit einer kleinen Prise Americana und opulentem Hans-Zimmer-Breitwand-Kino.

Der Blues verbindet immer noch Generationen

Die Opulenz ist dem Blues ja eher fremd. Hier wird seit jeher authentisch, hemdsärmelig, mit rauer Kante und dem Herz am rechten Fleck musiziert. Klar schießen Leute wie Joe Bonamassa auch mal übers Ziel hinaus, wer das sicherlich nicht tut und auch noch nie getan hat ist Bobby Rush.

Die über 90-jährige Blues-Institution hat sich mit dem auch nicht mehr ganz jungen (es trennen die Beiden 44 Lenze) Singer/Songwriter/Gitarrist Kenny Wayne Shepherd zusammen getan um ein klassisches Blues-Album unter dem Titel, „Young Fashioned Ways“ (Thirty Tigers) aufzunehmen. Darauf vertreten sind ein paar Neuinterpretationen alter Rush-Klassiker, aber auch jede Menge neues Material. Das Überraschende ist die immer noch jung und elastisch klingende Stimme des Blues-Opas und auf Tour wollen die beiden auch noch gehen. Leider wird man davon in Europa wahrscheinlich nichts mitbekommen.

Folk mit Kante

Überraschend tritt dagegen die US-Amerikanische Singer/Songwriterin Esther Rose Ende Mai im Jazzkeller zu Burghausen auf. Im Gepäck wird sie ihr fünftes Album, „Want“ (Bertus) haben. Darin erzählt sie persönliche Geschichten über ihre Abkehr vom Alkohol, bewertet Beziehungen neu oder nimmt einem einfach mit auf den Beifahrersitz ihres Autos. “Baby, I’ve got scars that you cannot see.

Love them for what they gave to me”, singt sie z.B. in “Scars”, bei dem Dean Johnson als Gast mitwirkt. Bemerkenswert an diesen Songs und Melodien ist, dass sie vordergründig wie ganz normale Americana-Songs klingen (und das sind sie bisweilen ja auch), zwischen den Zeilen oder besser Noten zeigen sie aber ihre Krallen und scheppern Richtung Indie-Rock. Da hat die Zusammenarbeit mit Jack White hörbar ihre Spuren hinterlassen.

Meisterwerk I

Apropos Scheppern! Wer seinen Meister in dieser Disziplin (und auch einigen anderen) finden will, muss das Ohr Richtung Skandinavien ausrichten. Dort „wütet“ seit bald 40 Jahren die Indie-Institution Motorpsycho und auch auf ihrem selbstbetitelten Doppel-Album (Cargo) zieht die Kapelle in teils neuer Besetzung wieder alle Register ihres unglaublichen Könnens.

Das reicht von Endlos-Gitarren-Exkursionen zwischen Birth Control und Wishbone Ash auf dem Opener „Lucifer, Bringer Of Light“ über den psychedelischen, Streicher-garnierten Folk-Rock eines Roy Harpers auf dem folgenden „Laird Of Heimly“ bis hin zur fragilen, akustischen Piano-Skizze von „Kip Satie“ oder dem über zwanzigminütigem Kunstlied „Neotzar (The Second Coming)“. Dazwischen alle Zwischentöne die die Rockmusik hergibt, tolle Instrumentalpassagen, überbordende Spielfreude und ein Ideenreichtum für ein gesamtes Oeuvre. Sicherlich eines ihrer (vielen) Meisterwerke und ein Monolith der progressiven Rock-Musik.

Meisterwerk II

An Ideen krankt es dem Produzent Richard Russell wahrlich auch nicht. Der Mitbetreiber des umtriebigen XL-Recording-Labels und Produzent von Bobby Womack oder Gil-Scott Heron hat unter dem Namen, Everything Is Recorded ein Mamutprojekt mit befreundeten Musikern der unterschiedlichsten Couleur gestartet. Auf „Temporary“ tummeln sich -man glaubt es kaum- Sampha, Bill Callahan, Noah Cyrus, Florence Welch, Maddy Prior, Berwyn, Alabaster Deplume, Jah Wobble, Yazz Ahmed, Laura Groves, Kamasi Washington, Ricky Washington, Roses Gabor, Jack Peňate, Samantha Morton, Clari Freeman-Taylor und Nourished By Time, so dass jeder Song seine ganz eigene Färbung erhält. Diese fulminante Gästeliste erlaubt es, dass Folk-Songs auf Soul-, Art-Pop-, HipHop-, Spoken Word- oder Reggae-Lieder prallen und dieser ideenstrotzende Gemischtwarenladen doch ungemein organisch und wie aus einem Guss klingt. Dass sich diese melodieseligen Lieder vorwiegend dem Thema Tod und Vergänglichkeit annehmen, fällt dabei fast unter den Tisch. Man darf auch hier von einem Meisterwerk sprechen.

* Diese Felder sind erforderlich.