Schobers-Rock-Kolumne: Verstörendes und tolle Liebeslieder

Schober hört und beschreibt dieses Mal Abgründiges, Überraschendes, Verstörendes - und auch ein paar tolle Liebeslieder.

Hoch lebe die Familie!” – Eigentlich sollte man ja dem Apell der mexikanischen Präsidentin folgen und einfach jeden Scheiß, der aus Amiland kommt, boykottieren. Mal sehen was Dumpfbacke-Vance und Vollpfosten Trump dann mit ihren Zöllen noch so alles bewegen werden. Aber dazu bräuchte es ja Einigkeit und die bekommen auch die vermeintlich Guten auf der Welt ja so selten hin.

Und dann gibt es da auch noch ein anderes Problem: Annie & The Caldwells – eine Familie aus West Point, Mississippi. Wenn man viel klonen und andernorts Ersatz finden kann, hier müsste man wohl verzichten, denn diese Art von Disco-Soul-Funk-Gospel-Music bekommen einfach nur schwarze Amerikaner hin.

Ahmed Gallab, besser bekannt als Sinkane, hat das Debüt des Familienunternehmens produziert, und man darf sich bei „Can’t Lose My (Soul)“ (Luaka Bop) auf eines der schärfsten Scheiben seit Sly & The Family Stone freuen. Annie Caldwell wird von ihren Töchtern Deborah Caldwell Moore und Anjessica Caldwell und ihrer Patentochter Toni Rivers unterstützt; Joe an der Gitarre, ihr ältester Sohn Willie Jr. am Bass und ihr jüngster Sohn Abel Aquirius am Schlagzeug vervollkommnen die Groove-Machine-

Ein Tex-Mex-Gericht mit scharfer Soße

Deutlich schärfer gewürzt als Tabasco ist die Soße, die Giovannie and The Hired Guns aus Texas zusammenbrauen. Giovannie steht zwar keiner Familie vor und wenn, dann wäre das wohl eher ein Mafia-Clan, denn zwischen den Gitarristen Carlos Villa und Jerrod Flusche, Bassist und Tuba-Spieler Alex Trejo und Schlagzeuger und Pianist Milton Toles und ihrem Frontmann passt kein Blatt Papier, wenn die Bande ihren Punk-informierten Mix aus Alt-Rock, HipHop, Country, Tex-Mex, Latin-Rock und Americana zusammen rühren.

Die Red Hot Chili Peppers haben schon lange keine so kraftstrotzende Scheibe abgeliefert und könnten sich hier besagte Scheibe mal abschneiden. Und Herr Tarantino, ja der könnte einen passenden Film zu diesem dreckigen Soundtrack drehen. „Quitter“ (Fat Possum) ist Adrenalin pur und sollte ein MUSS für jedes Festival Layout sein.

Eine musikalische Schwesternliebe

Bleiben wir gerne noch ein wenig familiär. Das Schwesternduo Bianca und Sierra Casady, besser bekannt als CocoRosie haben einen neuen Longplayer veröffentlicht. Der trägt den zweideutigen Titel „Little Death Wishes“ (Cargo) und diese Songs erzählen eine kaleidoskopische Geschichte über die generationsbedingte Härte von Frauen und die zerrütteten Realitäten ihres Lebens, über die prekäre und kostbare Natur des Menschseins, darüber, dass die Liebe Unrecht tut, und über einen letzten Wunsch, ungebrochen zu sein.

CocoRosie bringt alles auf den Punkt: Schmerz wird zu Wissen, Schwesternschaft zu Polemik, Trash zu Schatz, und Kitsch und Klischees werden zu neuen Wahrheiten umgewandelt. In einer Art Patchwork-Prozess flechten die Schwestern im Heimstudio allerlei Geräusche vom Schreibmaschinengeklapper bis zum Löffelschlagen in einfache, am Kinderklavier ersonnen Melodien, die als Basis viel Keyboard- und Synthi-Sounds plus elektronisch erzeugte Beats verwenden. Avantgarde wird hier zu Pop, Pop zu Avantgarde.

Queere Musik nicht nur für queere Menschen

An gängige Hörgewohnheiten klopft auch die Künstlerin und Multi-Instrumentalistin Lov3less (bürgerlich: Simone van Vugt) aus den Niederlanden. Auch wenn ein Song wie “MMMami Mami” vordergründig richtig süß klingt, geht es darum um queeren Sex und der kann sowohl lustvoll als auch recht problembehaftet sein, sinngemäß kreuzen giftige Gitarren den quirligen Pop.

„May22“ ist der wohl „normalste“ Songs auf der Platte, eine ergreifende Ballade die sich zur Hymne aufbaut und von der Schwierigkeit handelt einen geliebten Menschen loszulassen, der mit Suchtproblemen kämpft. Im folgenden “Gaslighter” kehrt die Musikerin das Rrrio Girl nach außen und thematisiert ihre Erfahrungen mit einem toxischen Ex-Partner. In dem Track geht es um die schmerzhafte Erkenntnis, über Jahre hinweg manipuliert worden zu sein, bis sie endlich die Gaslighting-Taktiken durchschaut.

Zu sonnigen Autofahrten lädt das unbekümmerte, mit einem starken Refrain und Background-Chören ausgestatte „High Life“, die traurige, minimalistische, atmosphärische Ballade „I´m Not Your Mother“ beschließt dieses vielfältige Album „Chief Executive Officer“ (Pop-Up) verbindet sowohl die Vielseitigkeit als auch die emotionale Tiefe von Lov3less.

Das Album erzählt die Geschichte einer intensiven Reise – von der Selbstfindung über Herzschmerz bis hin zur Selbstermächtigung. Mit beeindruckender Tiefe beleuchtet van Vugt Themen wie die Erschöpfung einer ganzen Generation, die Schönheit und Komplexität queerer Liebe und den befreienden Prozess, sich von toxischen Beziehungen zu lösen. Dabei verschmelzen schonungslose Ehrlichkeit und subtile Ironie zu einem kunstvollen Ausdruck von Verletzlichkeit und Stärke.

Auch die Franzosen haben den Soul

Annie & The Caldwells haben uns ja zu Beginn in den Soul`n`Funk Kosmos des Mississippi-Deltas geführt, aber auch an der Seine gedeihen ganz süffige Tropfen verwandter Güte. Winzer Ben L’Oncle Soul ist in der französischen Heimat ein mit Platinauszeichnungen dekorierter Künstler und sein aktuelle Album, „Sad Generation“ (Enchanté/Believe) zeigt auch warum. Es ist nämlich alles andere als „sad“, wen auch die Gitarren-Ballade, „Your Hand In Mine“ ein melancholischer Tränendrücker ist.

Ansonsten verbindet der Mann, inspiriert durch die Motown-Music Soul, R&B, Dub und Nu-Soul zu einem sämigen Mix mit charmanter französischer Cocktail-Kirsche. Fans von John Legend, Anderson Paak, Lauryn Hill, Maxwell und Masego werden sich in Bens Welt wie zu Hause fühlen, in der Nostalgie und Innovation aufeinander treffen, um etwas Zeitloses und doch Frisches zu schaffen. Mit seinen pulsierenden Rhythmen und seinen soulgetränkten Melodien bietet das Album einen Einblick in die Themen Freude, Resilienz und Introspektion.

Musik am Schlammloch

Apropos Freude: Kindern macht es ja eine riesige Freude, wenn sie sich so richtig im Schlamm auslassen können. Dazu gibt es sogar die passende Gummi-Kleidung zu kaufen. Die amerikanische Singer/Songwriterin Miya Folick ist zum einen mit ihren 35 Jahren kein Kind mehr, zum anderen tut sie das auf dem Cover ihres neuen Albums, „Erotica Veronica“ (Nettwerk) in weißer Baumwollunterwäsche.

Okay, sieht man den Schutz besser und kochen kann man das Gewand unter Umständen ja auch. Aber was will uns die Künstlerin damit sagen? Vielleicht dass der schöne Schein – ihre Melodien zwischen Indie-Pop und -Rock sind wirklich griffig und auch ein Flöten-Solo wie auch „Felicity“ passt hier perfekt ins Bild- trügt und ihre Empowerment-Lyrics auch von den Abgründen des Lebens und der Sexualität handeln (können).

Anyway: das verstörende Artwork hat seinen Dienst getan und Aufmerksamkeit generiert, der Drahtseilakt zwischen Pop-Sensibilität, Indie-Credibility und songwriterischer Authentizität gelingt, der Kontrast zwischen lieblicher Gesangsstimme und auch mal kreischenden Gitarren hält die Spannung auch über elf Songs lang konstant.

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