Ukraine-Krieg schockiert unsere Nachbarn in Prag: Angst in der Ferne um Familie und Freunde

Prag. Die Erinnerung an russische Panzer am Prager Wenzelsplatz ist noch nicht verblasst. Dazu kommt: Viele Ukrainer arbeiten in der Tschechischen Republik. Julia T., Ukrainerin aus der Nähe von Odessa, bangt in Prag um ihr Land. Gemeinsam mit unserem Berichterstatter erkundigt sie sich nach Freunden und Familie. Andere Tschechen organisieren Spendenaktionen oder holen Flüchtlinge von der Grenze ab.

Mit Panzern beendete die Sowjetunion die Wirtschaftsreformen in der Tschechoslowakei. Szene in Prag am 21. August 1968. Bild: Libor Hayskr/AP

Julia T. kommt am Vormittag mit verweinten roten Augen zu mir. Die sonst so lebenslustige 25-jährige Ukrainerin hält sich mit einem Drei-Monats-Visum in Prag auf, arbeitet für eine tschechische Reinigungsfirma und hilft mir einmal in der Woche, meine Wohnung in Schuss zu halten. Jedes Mal bringt sie gute Laune mit.

Angriff auf meine Heimat

Und jetzt dieser Schlag: „Ich habe am Donnerstag gegen 5 Uhr die Nachricht gehört, dass Putin den Befehl zum Angriff auf meine Heimat gegeben hat. Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen“, erzählt sie mir und hält nur mühsam ihre Tränen zurück. 

Ihr Visum muss sie alle drei Monate erneuern. Im April muss sie deshalb wieder in die Heimat unweit der Hafenstadt Odessa, um ein neues Papier zu beantragen. Vor zwei Tagen hatte sie sich dafür vorsorglich ein günstiges Flugticket besorgt. Ob sie es überhaupt wird benutzen können, steht jetzt in den Sternen. „Vielleicht bleibt mir nichts anderes, als erst einmal illegal in Prag zu bleiben.“ 

Feiger Überfall

Seit Stunden hängt sie am Handy, um zu hören, wie es Familie und Freunden geht. Gemeinsam telefonieren wir mit einer Freundin, einer Englisch-Lehrerein, in ihrem Heimatort direkt am Schwarzen Meer. „Hier herrscht totale Panik. Die Russen haben den Hafen von Odessa vom Meer aus beschossen. Wir haben die Einschläge gehört“, berichtet die Freundin. 

Panik herrsche auch deshalb, weil alle Läden geschlossen haben, es keine Lebensmittel zu kaufen gebe. „Natürlich haben wir gespürt, dass es ernst werden kann. Aber am Ende trifft es uns doch etwas unvorbereitet“, sagt die Freundin. „Wir haben nicht geglaubt, dass die Russen Ernst machen und uns feige überfallen.“

Bereits vor dem Angriff Russlands herrschte Krieg im Donbass: Der Beschuss eines Kindergartens wenige Tage vor der Invasion. Bild: Ukraine Crisis Media Center

6-Jähriger spürt die Panik der Familie

„Viele Leute wollen einfach nur weg hier. Auch wir überlegen“, sagt die Freundin. „Wir haben die wichtigsten Sachen gepackt, inklusive Pässe und Geld. Aber die Tankstellen haben kein Benzin mehr. Wann neues geliefert wird, konnten sie nicht sagen. Ohne Benzin aber kommen wir nicht weg hier.“

Die Leute hofften, dass sich das Land gegen den Überfall wehren werde, sagt die Englischlehrerin weiter. „Auch wenn die Ukraine keine Chance gegen die militärische Übermacht der Russen hat. Es geht hier um unsere Heimat und um unsere Ehre.“ Man kann ein großes Maß an Verzweiflung am anderen Ende der kostenfreien Messenger-Leitung hören. Auch Schluchzen. Vor allem vom jüngsten Sohn der Freundin, der gerade mal sechs Jahre jung ist, die Lage überhaupt nicht verstehen kann, aber die Panik der Familie spürt.

Per Autostopp in die Heimat?

Julia kann nur schwer mit dem Gehörten umgehen. Sie bemüht sich, sich zusammenzureißen, als eine andere Bekannte anruft und fragt, ob sie nicht ein bisschen Geld überweisen könne. Sorgsam langsam tippt sie die Kontonummer ein, um ja keinen Fehler zu machen.

Julia überlegt ernsthaft, sich irgendwie per Autostopp in die Heimat durchzuschlagen. Sie ist gelernte Krankenschwester, hat in der Ukraine dafür aber nur einen Hungerlohn bekommen. Deshalb ging sie nach Prag. Dort wollte man aber ihre Ausbildung nicht so einfach anerkennen. Also landete sie in der Reinigungsfirma. Sie ist nur eine von vielen Ukrainerinnen, die diese Erfahrung gemacht haben. „Immerhin verdiene ich mit sehr viel Arbeit hier so viel, dass ich meine Familie in der Ukraine unterstützen kann.“ 

Krankenschwester mit Kalaschnikow

In der Heimat, so ihre Überlegung, könnte sie wieder als Krankenschwester arbeiten. Schwestern würden jetzt im Krieg gebraucht. Außerdem hat sie wie viele ihrer Landsleute eine Ausbildung an der Waffe gemacht. „Ich würde auch mit einer Kalaschnikow gegen die Russen kämpfen.“ 

Julia ist sicher, dass sich Putin verrechnet. „Natürlich kann er mit seinem Militär unser Land unterdrücken. Aber er hat keine Ahnung davon, wie sehr sich die Menschen in den vergangenen Jahren gewandelt haben. Die Ukrainer werden niemals eine neue russische Vorherrschaft akzeptieren. Der Drang Richtung Westen wird jetzt nur noch größer.“

Sie erwarten humanitäre Hilfe

Von diesem Westen erwarten sie und ihre Freundin am Telefon keine militärische, wohl aber humanitäre Hilfe. „Ich bin froh, dass die Slowakei als einer unserer unmittelbaren Nachbarn, aber auch die Tschechische Republik angekündigt haben, sich für Kriegsflüchtlinge zu öffnen. Das werden wir ebenso wenig vergessen wie den feigen Überfall Putins auf unsere Heimat.“

Eine von vielen humanitären Aktionen unterstützt die Pragerin Svatka Schneider. Sie postet Spendenaktionen und einen Appell, Flüchtlinge aus der Ukraine mit dem eigenen Pkw von der polnisch-ukrainischen Grenze abzuholen.

Tschechische Hilfsaktion für Ukrainer: Hier kann man sich als Fahrer melden, der ukrainische Flüchtlinge von der Grenze abholt. Screenshot: Jürgen Herda

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