Wieso die ganze Welt auf den Zins schaut

Nordoberpfalz. War die jüngste Zinssenkung ein Fehler? Die Vergangenheit hat gezeigt, dass zu früh gesenkte Zinsen die Inflation wieder befeuern und sie in der Folge stärker zurückkommt.

Symbolbild: Markus Winkler.

Dr. Matthias Bernhardt arbeitet als Fondsmanager, Vermögensverwalter und Dozent für Finanzmathematik und Finanzmärkte. In seinen Tätigkeiten beschäftigt er sich täglich mit Themen rund um Finanzmärkte, Investmentstrategien und Kapitalmarktforschung. Auch bei OberpfalzECHO bezieht er ab sofort Stellung zu wirtschaftlich relevanten Fragen.

Wir alle kennen sie, Zinsen. Für Schuldner können sie nicht niedrig genug und für Sparer nicht hoch genug sein. Wenn Sie aber einmal genau hinschauen, werden Sie feststellen, dass Ihr Guthabenzins ein völlig anderer als Ihr Hypothekenzins ist, und der unterscheidet sich wiederum von den Kreditkarten- oder Festgeldzinsen.

Die verschiedenen Zinsarten haben allesamt einen gemeinsamen Nenner, von dem sie abgeleitet werden. Daher nennt man diesen auch Leitzins. Und genau auf diesen Leitzins schaut die ganze (Finanz-)Welt seit nunmehr über einem Jahr gebannt.

Gewährung der Preisstabilität

Der Leitzins wird von der Zentralbank eines Währungsraumes festgelegt. Das geschieht in regelmäßigen Sitzungen, in denen beispielsweise für Europa der Rat der Europäischen Zentralbank oder in den USA das Federal Open Market Committee tagt und die Höhe des Leitzinses bestimmt. Die Entscheidung selbst, wie hoch der Leitzins bei uns ausfällt, liegt im Ermessen des EZB-Rats, basiert aber auf bestimmten Rechenmodellen, die auf makroökonomische Daten, wie Inflation, Arbeitslosenzahlen, Industrieproduktion, Geldmenge usw. zurückgreifen.

Das oberste Ziel ist die Gewährung der Preisstabilität. Dabei definiert die Notenbank, dass sich die Preise bei einer Inflationsrate von unter, aber nahe bei zwei Prozent stabil entwickeln. Gegen hohe Inflationsraten gehen Notenbanken weltweit mit ihrem Hauptinstrument vor: den Leitzinsen. Meistens erfahren Sie davon in den Nachrichten mit Aussagen wie „Die EZB lässt den Leitzins unberührt“ oder „Die Zentralbank senkt die Zinsen um 0,25 Prozent“.

Eine Änderung der Leitzinsen hat zahlreiche Auswirkungen auf die verschiedenen Wirtschaftsbereiche. Den Weg von der Leitzinsänderung hin zur Realwirtschaft nennt man Transmissionskanal.

Der Transmissionskanal via Zinsen (Zinskanal)

Für die meisten Menschen hat der Zinskanal im letzten Jahr die größte Rolle gespielt. Denn wenn die Zentralbank den Leitzins erhöht, werden Kredite für Unternehmen teurer, wodurch sie ihre Investitionen herunterfahren. Weniger Investitionen bedeutet weniger Produktion und weniger Produktion bedeutet weniger Angebot an Gütern und Dienstleistungen.

Gleichzeitig haben die Verbraucher Grund zum Sparen, denn die Guthabenzinsen sind gestiegen. Mehr Sparen bedeutet weniger Konsum. Weniger Konsum bedeutet geringere Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Damit sinken sowohl die Nachfrage als auch das Angebot und die Preise sinken. Genau dieser Kanal ist der Grund, warum die EZB seit über einem Jahr den Leitzins sukzessive erhöht hat. Denn durch Zinserhöhungen verfolgt die EZB das Ziel, die Inflation zu bekämpfen.

Zinssenkung zu früh?

In der jüngsten Sitzung des EZB-Rats rund um deren Präsidentin Christine Lagarde im Juni wurde eine Zinssenkung um 0,25 Prozent beschlossen. Meines Erachtens kommt diese Zinssenkung aber zu früh. Betrachtet man die volkswirtschaftlichen Daten, dann sehen wir einen starken Arbeitsmarkt, der in Tarifverhandlungen in der Lage ist, höhere Löhne durchzusetzen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass zu früh gesenkte Zinsen die Inflation wieder befeuern und sie in der Folge stärker zurückkommt.

Es scheint, als hätte sich die EZB mal wieder selbst in die Enge manövriert (wie auch schon 2021 mit einer falschen Einschätzung der Inflation im Euroraum). Denn bereits seit dem Frühjahr dieses Jahres hat die EZB dem Markt mit breiter Brust relativ deutlich mitgeteilt, dass im Sommer Zinssenkungen anstehen können. Und aus dieser lautstarken Kommunikation konnte sich die EZB nicht mehr befreien, ohne dass der Markt völlig verunsichert worden wäre. Daher kommt die Leitzinsänderung aus Anlegersicht nicht überraschend, jedoch aus volkswirtschaftlicher Sicht verfrüht.

Besonnener verhält sich dagegen die Notenbank der USA. Sie lässt in ihrer jüngsten Sitzung den Leitzins aufgrund der undurchsichtigen und wechselhaften volkswirtschaftlichen Daten der USA unverändert in der Spanne von 5,25 bis 5,5 Prozent. Zudem signalisiert der Chef der US Notenbank, Jerome Powell, nur noch eine Zinssenkung dieses Jahr (im Frühjahr waren es noch drei). Das zeigt, dass die USA der Inflation zurecht weitaus misstrauischer gegenüber stehen, als es die europäischen Kollegen tun.

Was bedeutet das für die Anleger?

Es scheint, dass die Europäische Zentralbank die hiesigen Märkte nicht einheitlich beruhigen kann, was den amerikanischen Währungshütern besser gelingt. Vor diesem Hintergrund kann man sich als Anleger Gedanken darüber machen, welche Auswirkungen dieses Ungleichgewicht auf die Finanzmärkte hat, mit welchen Wahrscheinlichkeiten diese Auswirkungen eintreten und sich entsprechend positionieren. Solche Wahrscheinlichkeiten spielen auf den internationalen Finanzmärkten eine zentrale Rolle, aber mehr dazu in meinem nächsten Artikel.

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