Zwillingsgeburt mit dramatischen Folgen: Eltern klagen gegen Klinikum
Weiden. Eltern aus Weiden haben das Klinikum Weiden auf Schmerzensgeld verklagt. Ihre Tochter erlitt 2017 bei der Geburt einen schweren Sauerstoffmangel. Laut Gutachten erfolgte der Notkaiserschnitt viel zu spät. Das Kind ist schwerst behindert, sein Zwillingsbruder kerngesund.
Die 1. Zivilkammer am Landgericht Weiden verhandelte am Montag eine Klage von Eltern in Vertretung ihrer Tochter (5) gegen das Klinikum Weiden. Bei der Geburt 2017 hatten sich die Geburtshelfer gleich mehrere Versäumnisse geleistet. Der Sachverständige Prof. Dr. Uwe Hasbargen (LMU-Klinikum München) sagte vor Gericht: „Hier sind Fehler passiert, die nicht hätten passieren dürfen.“
Bitte nach Kaiserschnitt wurde abgelehnt
Die Mutter hatte schon 2014 ein Mädchen im Klinikum entbunden. 2017 wurde sie erneut schwanger: mit Zwillingen. Ihre Frauenärztin stufte dies als Risikoschwangerschaft ein. Geburtstermin sollte Anfang Juli sein. Schon ab März war die Schwangere ambulant im Klinikum, da eine Frühgeburt drohte. Die Lehrerin fragte mehrfach nach der Möglichkeit eines geplanten Kaiserschnitts. Das habe der damalige Oberarzt lapidar abgelehnt: Eine natürliche Geburt sei besser für die Kinder.
Der schicksalhafte 28. Juni 2017. Die hochschwangere Frau (Ende 38. Woche) wird zur medikamentösen Geburtseinleitung um 8 Uhr morgens mit ihrem Mann aufgenommen. Um 15.45 Uhr wird das Paar wieder heimgeschickt. Die Geburtsklinik sei zu voll. Es sei nicht gewährleistet, dass am Abend für die Zwillingsgeburt die erforderlichen Ärzte zur Verfügung stünden.
Dramatische Zuspitzung
Um 20.05 Uhr steht das Ehepaar erneut da: Die Wehen haben eingesetzt. Die Mutter wird an ein CT-Gerät angeschlossen. Die Hebamme dokumentiert stechende Schmerzen. Ein Assistenzarzt kommt immer mal wieder, unternimmt aber nichts. Bis 21.45 Uhr wird mehrfach notiert, dass die Schmerzen stark zunehmen. Eine PDA wird abgelehnt.
Der Assistenzarzt ignoriert durchgehend das CT: Zehn Mal gibt das Gerät Alarm aus, weil es die Herzfrequenz eines Kindes verloren hat. Ab 21.30 Uhr zeigt sich dann ein „suspektes“ Signal, so der Gutachter Hasbargen. Für ihn hätten allein diese Herzton-Messungen dringend zu einer Reaktion führen müssen: „allerspätestens um 21.50 Uhr“. Der Assistenzarzt unternimmt nichts.
Um 22.04 Uhr eskaliert die Lage. Die Frau verliert massiv Blut, das über den Bettrand läuft. Die Hebamme schätzt 300 Milliliter. Ein klarer Hinweis auf eine Plazenta-Lösung. Für Gutachter Hasbargen bedeutet das den „absoluten Notfallmodus“. „Da zählt jede Minute.“ Das sei „wie eine Tüte über den Kopf gestülpt“. Eine weitere Hebamme kommt dazu und kontaktiert endlich die Oberärztin.
OP-Team stand schon 15 Minuten bereit
Die Hebamme fängt auch sofort ein OP-Team ab. Anästhesist und OP-Schwester stünden bereit. Dennoch vergeht eine weitere Viertelstunde, weil der Assistenzarzt erst noch einen Ultraschall durchführen will. Das Gerät ist defekt, er muss ein anderes holen und hochfahren. Um 22.23 Uhr führt die Oberärztin schließlich den Notkaiserschnitt durch. Sechs Minuten später ist der erste Zwilling da. Dokumentiert mit den Worten: „Geburt eines schlappen, reifen Mädchens bei vollständig abgelöster Plazenta.“
Das Kind ist 2880 Gramm schwer, 51 Zentimeter lang und atmet nicht. Der Säugling wird reanimiert und auf die Intensivstation verlegt.
Mädchen bleibt auf dem Stand eines Kleinkinds
Und heute? Das Mädchen ist durch die unzureichende Sauerstoffzufuhr bei der Geburt schwerst behindert. Die inzwischen Fünfjährige wird nie ein eigenständiges Leben führen können. Sie kann nicht essen, nicht sprechen, nicht gehen, nicht ohne Unterstützung sitzen. Die Situation ist besonders dramatisch, weil das Kind geistig bei klarem Verstand ist und seinen Zustand – im Vergleich zum völlig gesunden Bruder – wahrnimmt. Epilepsie ist dazu gekommen. Jede Nacht wird das Mädchen verkabelt: Ein Monitor alarmiert, wenn Sauerstoff-Sättigung und Herzfrequenz abfallen.
Anwalt Christoph Scharf: „Die gravierende Schädigung hätte vermieden werden können und müssen.“ Der Geburtsschaden sei auf eine grob fehlerhafte Behandlung im Klinikum zurückzuführen. Ein früherer Kaiserschnitt hätte die Schäden verhindern können. Der Anwalt beruft sich dabei auf die Sachverständigengutachten.
Gutachter der Universitätsklinik München: vermeidbar
Im Auftrag des Landgerichts Weiden haben Ärzte des Klinikums der Universität München den Fall begutachtet. Ihr Fazit: Für Prof. Hasbargen ist „völlig unverständlich“, warum nicht früher gehandelt wurde. Das Krankheitsbild sei ohne Zweifel durch den Sauerstoffmangel zu erklären. Das Ausmaß des Schadens sei „ausschließlich“ durch die unterlassene Behandlung vor der Geburt verursacht, sagt Dr. Astrid Blaschek. Beide Babys wären kerngesund gewesen.
Die Klinik-Anwälte Carl Brünnig und Markus Blay fragen nach, ob die Schäden nicht auch früher schon bestanden. Zwischen Plazenta-Lösung und Geburt lagen 25 Minuten. Selbst eine schnelle Notsectio hätte 10 Minuten gedauert. Die Gutachterin bleibt dabei: „Das ist Spekulation. Was man sicher sagen kann: Das Ausmaß wäre geringer.“
Tapfere Eltern
Für die Eltern aus Weiden ist die dreistündige Verhandlung schwer zu ertragen. Sie sagen kein Wort. Hinterher kommen der Mutter die Tränen. „Das kommt alles wieder hoch“, meinte der Vater. Man habe lange nicht mehr über den Ablauf des unheilvollen Abends nachgedacht, versuche vielmehr mit allen Kräften, den drei Kindern gute Eltern zu sein.
Eine Entscheidung fällt am Montag noch nicht, es gibt noch einmal eine Möglichkeit zur Stellungnahme. Die Zivilkammer tendiert zur Klage der Eltern. Vorsitzender Richter Josef Hartwig zieht ein erstes Resümee: Das Abwarten der Geburtshelfer ist nicht nachvollziehbar. Die Höhe des Schmerzensgeldes stellen die Eltern in das Ermessen des Gerichts.
Keiner der beteiligten Ärzte arbeitet noch im Klinikum Weiden.
Für die Zivilklage haben die Eltern 2020 den Zustand ihrer Tochter beschrieben:
„Ella kann weder frei sitzen noch stehen. Krabbeln oder Robben sind ihr ebenfalls nicht möglich, geschweige denn Gehen oder Laufen. Um sich fortzubewegen, ist sie daher zu jeder Tageszeit auf die Hilfe anderer angewiesen. Sie kann nicht aus einem Becher trinken, weil sie ihn nicht festhalten kann. Aus diesem Grund ist es ihr auch nicht möglich, die Gebärdensprache zu erlernen, denn bis auf zwei Wörter (Ja und Mama) kann sie nichts zum Ausdruck bringen. Die Kommunikation besteht durch Gestikulieren, so weit dies möglich ist und Erraten seitens der Eltern.
Ella kann ohne Unterstützung faktisch nichts. Ihr Zwillingsbruder ist bereits trocken, kann selbstständig essen, Zähne putzen, holt sich einfach einen Becher vom Tisch, kann auf dem Spielplatz toben, im Wasser planschen, Socken und Schuhe ausziehen und sich natürlich sprachlich äußern. Das alles bleibt Ella verwehrt.
Besonders dramatisch erscheint die Lage, da Ella geistig gesund ist und bereits jetzt sehr unzufrieden ist, wenn sie merkt, dass bei ihr nichts klappt, sie nicht vorwärtskommt und nicht verstanden wird. Unser Alltag ist sehr stark an ihre Bedürfnisse angepasst und auch ihre Geschwister leiden unter dieser Situation.“
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