Weidens Imam als Aufklärer: Prediger, Seelsorger und Sozialarbeiter in einer Person

Weiden. So geht Integration: Weidens Imam absolvierte als einer der ersten die deutsche Imam-Ausbildung. Maher Khedr ist Experte darin, Religionsregeln pragmatisch auszulegen: Deshalb dürfen Oberpfälzer Moslems Fleisch aus dem Supermarkt essen und einen Hauskredit aufnehmen.

Weidens versöhnlicher Imam Maher Khedr im Gebetsraum des „Deutschsprachigen Muslimenkreises Weiden“. Foto: Jürgen Herda

Maher Khedr ist eine imposante Erscheinung: Der großgewachsene Ägypter steht aufrecht in seinem dunkelgrauen Nadelstreifen-Kaftan im bescheidenen Weidener Gebetsraum. Ein Deckenstrahler verleiht seinem Gesicht und der weißen Kappe ein fast mystisches Leuchten. Die Szenerie täuscht. Der freundliche Mittfünfziger ist ein lebensfroher Pragmatiker.

Ein Interview mit Maher Khedr ist keine Einbahnstraße. In kürzester Zeit entwickelt sich im Büro des „Deutschsprachigen Muslimenkreises Weiden“ ein intensives Gespräch. Nur unterbrochen von Gesichtern unterschiedlichster Nationalität, die kurz im Türrahmen auftauchen, „Salam Aleikum“, und sich verabschieden: „Wir haben hier am Freitag Gäste aus aller Welt“, entschuldigt der Imam jede Störung, die keine ist. „Araber, Amerikaner, Deutsche, Russen.“

Der Heiligenschein im Gebetsraum täuscht: Maher Khedr ist ein weltoffener, lebensfroher Imam. Foto; Jürgen Herda

Heimatsuche im Glauben

Beim Freitagsgebet sind die beiden Gebetsräume bis zum letzten Platz gefüllt. Etwa 100 Gläubige finden sich hier zur Meditation zusammen, lauschen dem Gebetsruf. Die Predigt des Imam, der kürzlich die zweijährige deutsche Imam-Ausbildung in Osnabrück abschloss, ist teils in der Sprache des Propheten und teils auf Deutsch. „Auch junge Türken kommen deshalb oft lieber zu uns“, sagt er, „deren Imam, den die Türkisch-Islamische Union (DITIB) geschickt hat, spricht kein Deutsch.“

Der Imam kennt die Sorgen seiner Gemeinde: „Die Türken werden in der Türkei als Deutsche und in Deutschland als Ausländer behandelt.“ Mangels einer Heimat, in der sie sich anerkannt fühlen, seien sie auf der Suche nach Identifikationsmustern: „Als Moslem kann man sie nicht halbieren“, erklärt der Imam, „deshalb suchen sie Halt im Glauben.“ Ein Glauben, der ein psychologisches Bedürfnis stillt. „Wir konnten viele junge Leute, die abzugleiten drohten, geradebiegen.“

Unbezahlbare Integrationskraft

Einen Intellektuellen wie Maher, der beide Welten kennt, der beide Sprachen spricht, der vermitteln kann und will, so eine sanfte Autorität tut Weiden gut. Der Imam ist moderater Prediger, Seelsorger, Sozialarbeiter in einer Person. Gäbe es ihn nicht, müsste man ihn erfinden. Würde die Politik ein Integrations-Programm auflegen, wäre das sehr teuer und wahrscheinlich ginge es an der Lebensrealität der Betroffenen vorbei.

Der „Deutschsprachige Muslimenkreis Weiden“ aber finanziert sich durch Spenden und Beiträge – rund 60 Mitglieder zahlen 20 Euro im Monat. Die üppige Miete für das nicht gerade luxussanierte Gebäude in der Hochstraße 5A ist damit nur schwer zu stemmen. „Wir hätten uns gewünscht, einen Raum von der Stadt zu bekommen“, sagt der Imam. „Es wäre schön, wenn wir von den Mietkosten entlastet würden – wir kämpfen darum, dass Kinder nicht bei den Extremen landen.“

Antrittsbesuch Maher Khedr Wieden
Willkommen in Weiden: Oberbürgermeister Jens Meyer begrüßte Maher Khedr und Paul Zimmermann zum Gespräch im Rathaus. Foto: Stadt Weiden

„Hamas nutzt die Unwissenheit aus“

Ein Dialog mit einem islamischen Geistlichen führt dieser Tage zwangsläufig zum Nahost-Konflikt, der auch in Deutschland tiefe Spuren hinterlässt. So wie manche hierzulande deutsche Juden drängen, sich zur Politik Israels zu äußern, als wären sie für die Regierung Netanjahus persönlich verantwortlich, werden auch die Appelle an Moslems lauter, sich zur Hamas zu positionieren – als sei jeder Gläubige potenzieller Terrorunterstützer.

Maher Khedr ist da eindeutig. Klar benennt er den Aggressor: „Wir müssen dagegen kämpfen, dass Extremisten wie die Hamas oder der IS die Unwissenheit der Menschen ausnutzen.“  Für den Imam sei das ein politischer und kein religiöser Konflikt: „Freunde von mir sind Palästinenser mit einem israelischen Pass, die in Israel integriert sind.“ Das sei der Hamas ein Dorn im Auge: „Sie verliert dadurch an Macht und will das verhindern.“ Gewalt sei im Islam nur unter einer Bedingung legitim: „Zur unmittelbaren Verteidigung der Familie.“

„Mein Herz leidet mit allen Opfern“

„Die furchtbare Gewalt der Hamas provoziert die Gegengewalt Israels“, sagt der Imam. „Mein Herz leidet mit allen Opfern, egal ob Juden oder Araber.“ Jede Seite müsse etwas nachgeben, auch ein palästinensischer Staat müsse möglich sein. „Der Hass wächst bei jungen Menschen, die in so einer Atmosphäre aufwachsen“, beschreibt Khedr die Lage. „Angst regiert in Gaza, dieses Klima ist nicht normal, diese Gesellschaft ist nicht normal.“ Der Zünder seien Hass und Rache. „Wir alle müssen Verantwortung übernehmen und diesen Konflikt stoppen.“

Der von Terroristen zweckentfremdete Appell, Ungläubige zu töten, entstamme einer historischen Kriegssituation, die für heute so wenig Aussagekraft besitze, wie das biblische „Auge um Auge.“ Eindringlich appelliert er an alle Gläubigen: „Wenn einer erhält jemanden am Leben: Es soll sein, als hätte er erhalten die Menschen am Leben, allesamt.“ Umgekehrt wird die Tötung eines Menschen im Koran gewertet, „als hätte er getötet die Menschen, allesamt“ (Koran 5,32).

Imam Maher Khedr im Gespräch. Foto: Jürgen Herda

„Handel nach islamischem Recht“

Nicht nur die kriegerischen Passagen im Koran interpretiert Maher Khedr neu. Nach Deutschland kam er nach einem Theologie-Studium in Ägypten, um sich in Erlangen in der Fachrichtung „Handel nach islamischem Recht“ fortzubilden. „Auf diesem Gebiet hat die Universität Erlangen eines der renommiertesten Institute weltweit“, überrascht der Imam. Hier hat er sich unter anderem mit der Frage auseinandergesetzt, wie Moslems das islamische Kreditverbot handhaben können.

„Deshalb haben muslimische Ingenieure bei Siemens lebenslang zur Miete gewohnt“, sagt Khedr.  „Wir haben festgestellt, dass die Bank nicht nur Geldgeber, sondern Teil des Geschäftes ist – sie begutachtet das Haus, und es gehört ihr, bis es abbezahlt ist.“ Diese Interpretation aber erlaubt Moslems, einen Hauskredit zu beantragen. „Für Deutschland wurde das hier zum ersten Mal festgestellt, und der Zentralrat der Muslime hat es akzeptiert.“

Imam Khedr Antrittsbesuch Rathaus Weiden
Imam Maher Khedr und seine Frau Nermin. Foto: Jürgen Wilke

Haram? Weg frei zu Aldi und Lidl

Auch in Sachen haram (verboten) und halal (erlaubt) bei den Essensregeln hat der Imam gute Nachrichten für die Gläubigen: „Bisher sagten Muslime, ,ich darf kein geschlachtetes Fleisch nach deutscher Schlachtung essen‘.“ Nach genauerer Betrachtung deutscher Schlachthaus-Standards hat Khedr festgestellt: „Die Tiere müssen auch hier ausgeblutet sein, der einzige Unterschied ist die vorangehende Betäubung.“ Damit ist auch für Moslems der Weg frei zu Aldi und Lidl.

Doch wie viel Einfluss hat der islamische Akademiker auf seine Gemeinde? „Ich schätze, 70 Prozent unserer Gläubigen akzeptieren diese Neuerungen“, sagt Khedr. „30 Prozent meinen, sie sind besonders stark im Glauben, wenn sie sich das Leben schwer machen – das ist ein Irrtum.“ Anders als im Christentum hat der Imam wie auch der jüdische Rabbi keine Weisungsbefugnis. „Wir geben eine Empfehlung, aber jeder entscheidet selbst, ob er sie annimmt.“ Und vor allem: „Sie muss belegt sein.“

Imam Maher Khedr als Prediger: Ex cathedra kann der muslimische Geistliche anders als der Papst allerdings gar nichts bestimmen. Er muss seine Auffassung immer belegen. Foto: Jürgen Herda

Gleiche Wurzeln: Juden, Christen und Moslems

Maher Khedr bewertet Menschen nicht nach ihrem Glauben. Wie Lessing in seiner Ring-Parabel haben Juden, Christen und Moslems ohnehin die gleichen Wurzeln und viele gemeinsame Propheten. Und wie verhält es sich mit Atheisten? „Aus islamischer Sicht gibt es zwei Gruppen von Ungläubigen“, sagt er. „Die Kämpfer gegen den Glauben und friedliche Menschen, die an die Naturwissenschaft glauben.“ Von wegen ungläubig …

Vor dem Gesetz aber sind für Khedr alle gleich. „Der Staat sollte neutral sein.“ Damit befindet sich der Imam in bester Gesellschaft der Aufklärer des 18. und 19. Jahrhunderts, welche die Grundlage für die demokratischen Werte der Moderne legten: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Nur so kann das Zusammenleben funktionieren.

Maher Khedr kommt aus der ägyptischen Großstadt Zagazig. Foto: europe-online magazine

Arabischer Frühling, ägyptischer Herbst

Maher Khedr ist gebürtiger Großstädter. Der Ägypter kommt aus Zagazig (383.703 Einwohner), Hauptstadt des Gouvernements asch-Scharqiyya, im östlichen Teil des Nildeltas, rund 76 Kilometer von Kairo entfernt.

Während des Arabischen Frühlings habe in seinem Land Aufbruchstimmung geherrscht. „Die Menschen sind aufgewacht“, sagt der Weidener Imam, „man hat sich an den Menschenrechten in Europa orientiert, infrage gestellt, das Ein-Parteien-System Mubaraks weiter zu akzeptieren.“

Die moderne Technik habe die Rebellion möglich gemacht. „Jedes kleine Kind hat heute ein Smartphone, man verabredete sich zu Protesten, die immer größer wurden – wir wollten eine richtige Demokratie.“ Der Diktator habe sich schließlich rechtzeitig, ohne Blutvergießen, zurückgezogen. „Dann kamen die Muslim-Brüder an die Macht“, sagt Khedr, „bis auch sie wieder entmachtet wurden.“

Die Enttäuschung sei jetzt groß: „Wir haben uns etwas anderes vorgestellt“, erklärt er. „Es kann aber auch sein, dass unser Volk für die Demokratie noch nicht reif ist.“ Heute würden Wahlen danach entschieden, wer am meisten bietet: „Da reicht es oft, dass ein Kandidat Lebensmittel stiftet.“

Der 55-jährige Geistliche lebt zusammen mit seiner Frau Nermin, Tochter Anna Salsabil, einer 18-jährigen Gymnasiastin, die Medizin studieren möchte, dem 16-jährigen Wirtschaftsschüler Florian Mohammed und dem 12-jährigen Realschüler Fabian Ahmed in Eschenbach. In den Doppelnamen seiner Kinder vollendet sich die arabisch-deutsche Symbiose.

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