Anleitung zur Freimaurerei (4): Sinn des Lebens

Hahnbach/Weiden. Schule, Beruf, Karriere – und was dann? Man muss kein Cree-Indianer sein, um zu merken, dass man Geld nicht essen kann und Konsum nicht glücklich macht. Die Freimaurer der Loge „Septem Fontes“ im „Orient Sulzbach-Rosenberg“ sind auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.

Freimaurer-Meister Ludwig von Stern (links) und Johannes Witte im Gespräch. Foto: Jürgen Herda

Es gibt eine Szene im Monaco Franze, in welcher der grandiose Karl Obermayer alias Manni Kopfeck völlig niedergeschmettert in einem Sessel seiner abgebrannten Wohnung sitzt, weil sein wohnungsloser Kumpel Franz Münchinger ein Geschirrtuch auf der heißen Herdplatte liegen gelassen hat. Sinngemäß sagt der Volksschauspieler: „Jeden Tag das Gleiche, ich steh‘ auf, geh ins Büro, sperr‘ die Tür auf, geh‘ rein, sperr‘ am Abend wieder zu, geh‘ heim, ess‘ was, geh‘ ins Bett …“

Kennen wir das nicht alle? Denn einen trifft es früher, den anderen in der Midlife-Crisis: „Und, war das jetzt schon alles?“ Ludwig von Stern, Mitbegründer der Loge „Septem Fontes“ im „Orient Sulzbach-Rosenberg“, merkt schon in jungen Jahren, dass ihm etwas fehlt: „Bei mir war es so, dass ich in der Schule keinerlei Philosophie vermittelt bekommen habe.“

„So kannst du nicht in die Welt gehen“

Sein Verstand sagt ihm damals: „Ich dachte, so kannst du nicht in die Welt gehen.“ Von Sokrates, Platon und Aristoteles habe er gerade mal die Namen gekannt: „Aber was die gesagt haben, keine Ahnung!“ Also habe er begonnen, sich bei jeder Bus- oder Zugfahrt eine andere Lektüre vorzunehmen. Für dessen Meister-Bruder Johannes Witte ist das die Beschreibung des perfekten Kandidaten: „Nach dem Abschluss der Berufsausbildung und nach ein paar Karriereschritten, wenn man merkt, es gibt noch etwas anderes …“

Das sei der richtige Zeitpunkt, um bei den Freimaurern die Frage aller Fragen zu stellen. Oder um es mit „Per Anhalter durch die Galaxis“ zu formulieren: „Die endgültige Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest.“ Die berühmten Kant’schen Fragen: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ Die Frage nach dem Sinn des Lebens.

Grenzbereiche des Wissens

Witte, der Apotheker im Ruhestand, hatte das Glück, dass Bildung in seinem Elternhaus, das vom niederländischen Reformkatholizismus geprägt war, einen hohen Stellenwert hatte. „Mich haben neben der Naturwissenschaft auch andere Dinge interessiert, und ich war von der Freimaurerei fasziniert, bin aber erst spät damit in Berührung gekommen.“ Über einen Bruder Freimaurer sei er regelrecht gestolpert, der dann sein Bürge wurde: „Er hätte ohne weiteres mein Vater sein können“, sagt er wehmütig. „An ihn denke ich gerne. Er ist leider viel zu lange schon tot.“ Witte habe als promovierter Naturwissenschaftler die Neigung, gerne die Grenzbereiche des Wissens zu beleuchten.

„Der Begriff der Zeit und deren verschiedene Definitionen“, nennt Witte als Beispiel. „Newton ging von der großen Standuhr des Weltalls aus, Einstein von einem Zeitbegriff, der sich nicht vom Raum trennen lässt.“ Oder die Dualität des Lichts: „Ist es Teilchen oder Welle?“ Beides sei wahr: „Aber für unseren Begriff ist das widersprüchlich.“ Von Stern stimmt zu: „Die Philosophie hat viele Berührungsflächen mit der Physik.“ Sowohl in der Stoa als auch in der Aufklärung sei es um den Sinn des Lebens gegangen: „Fragen, die uns umtreiben, haben auch Kant umgetrieben: Was ist Wirklichkeit, Wahrheit, Ehre?“

Newtons Physik macht keinen Unterschied zwischen Zukunft und Vergangenheit. Und laut Einstein kennt das Universum kein Jetzt. Der Mensch lebt dagegen im Augenblick, wird vom Fluss der Zeit mitgerissen. Wie passt beides zusammen? Die Zeit scheint reif, die Zeit als ein zutiefst menschliches Phänomen wieder fest in der Physik zu verankern. Collage: jrh

Starker Tobak: Heisenberg und Einstein

Die Heisenbergsche Unschärferelation und Einsteins Relativitätstheorie in einer „Zeichnung“ von zehn Minuten? Ist das nicht ein zu schwerer Stoff für manche Mitglieder? „Bei den tragenden Fragen kommen wir oft zu einer antwortlosen Verblüffung“, antwortet von Stern etwas ausweichend. „Das ist mein Lebensgefühl, hier stehe ich nun, ich armer Tor und bin so klug …“ Das berühmte Faust-Zitat lässt ihn Bruder Witte freilich nicht im O-Ton beenden: „… nicht als zuvor, aber noch nicht am Ende des Erkenntniswegs.“

Denn darum gehe es auch: „Wir können uns gegenseitig zum Staunen verhelfen.“ Witte sei irgendwann auf ein Bild gestoßen, einen niederländischen Holzschnitt vom Ende des 16. Jahrhunderts mit dem ptolemäischen Weltbild, als die Erde noch eine Scheibe schien: „Und darauf lüpft ein kleines Menschenkind die Decke des Himmels und schaut hinaus – das sind wir.“ Sehr bildhafte Menschen seien die Freimaurer, die den Mantel über den Geheimnissen des Lebens ein wenig anheben, um ein Stück Erkenntnis zu erhaschen.

Blick raus aus der Blase des zeitgenössischen Wissens: Holzschnitt aus Camille Flammarion: L’Atmosphere – Météorologie Populaire. Paris 1888. Kolorierung: Heikenwaelder Hugo, Wien 1998. Unklare Herkunft und Datierung des Originals. Grafik: CC-Lizenz (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Universum.jpg)

Das Ritual: die emotionale Komponente

Das halte die Welt der Freimaurer in ihrem Innersten zusammen: „Wir können staunen über eine neue Idee, über einen neuen Aspekt, egal wie alt wir sind.“ Das sei vielleicht auch der Grund, warum sie kaum Generationsprobleme hätten. Im Großen und Ganzen sei die Mitgliederentwicklung positiv: „Wir sind für viele junge Gedankensucher attraktiv – natürlich auch für Ältere“, freut sich Witte. Und dann käme eben noch eine Dimension dazu, die keine andere Vereinigung zu bieten habe: das Ritual. Die emotionale Komponente.

„Wir wählen ein Thema, das uns Brüder berührt“, erklärt Witte. Bereits beim ersten Gästeabend, an dem Interessenten teilnehmen, führe man den Gedankenaustausch unverblümt, als ob die Brüder unter sich seien: „Gedanken präsentieren, annehmen, nicht bewerten, eine Ideen-offene Diskussion führen.“ Das werde als ausgesprochen bereichernd empfunden. „Unsere Riten aber, das, was wir feierlich machen, sprechen das Gemüt und die Emotionen an.“ Das sei etwas Originäres und habe viel mit Meditation und Kontemplation zu tun.

Die Tafelloge ist ein Freimaurer-Ritual, welches zu feierlichen Anlässen in Form eines Banketts abgehalten wird, etwa beim Stiftungsfest oder nach der Aufnahme eines Suchenden in den Freimaurerbund. Ende der vierziger und anfangs der fünfziger Jahre des 18. Jahrhunderts entstanden in England die ersten so genannten „Feuergläser“, benannt nach dem „gefeuerten Toast“ der Freimaurer. Schon diese Gläser hatten einen stark ausgebildeten und verstärkten Fuß, damit sie beim kräftigen Absetzen nicht zu Bruch gingen. Original-Gravur: F-T Bègue Clavel (1798-1852) in: „Histoire pitoresque de la franc-maçonnerie“. Kupferstich von 1843: Lizenz gemeinfrei

Ein Erlebnis, das man nicht vergisst

Wenn der Suchende dann den Prozess des Kennenlernens absolviert hat, er gewogen und für genau richtig befunden wird, steht das feierliche Aufnahmeritual bevor: „Wir raten jedem Bewerber, dass er sich nicht über das Ritual informiert“, sagt von Stern stirnrunzelnd, „weil er sich sonst die ganze Überraschung raubt – denn das ist wirklich ein emotional berührender Moment.“ Punkt. Mehr wird nicht verraten. Sonst würden sich die Brüder ja selbst ad absurdum führen.

Wenn es aber stimmt, dass man Fremden die Rituale auch deshalb vorenthält, weil sie diese nicht in ihrer Tiefe verstehen könnten, sich womöglich über Form und Tracht lustig machen würden – muss dann nicht auch der Novize höchst verwundert auf das Ritual reagieren?  „Das wird so gestaltet“, erklärt Witte, „dass es zwar für einen Neuling befremdlich wirkt, aber dennoch positiv emotional berührend ist.“ Punktum. „Wir tun nichts, was kränkt oder verletzt, sondern versuchen im Gegenteil aufzubauen – wir berühren im übertragenen Sinn den Mitbruder bestärkend, auffangend, warm.“

Mit seinem angeblichen Enthüllungsbuch heizte der Freimaurer-Aussteiger Léo Taxil 1886 die Stimmung gegen die Freimaurer mit Lügenmärchen an. Foto: Léo Taxil, Les Mystères de la Franc-Maçonnerie, Paris, 1886.

„Unser einzig wirkliches Geheimnis“

Als Journalist tut man sich schwer, Fragen, die auf den Kern der Sache zielen, offenzulassen. Darum gibt Witte eine Hilfestellung für Begriffsstutzige: „Kann man einem 13-Jährigen erklären, was Liebe ist?“ Ich bin mir da nicht so sicher. „Sehen Sie! Und damit ist es genauso. Das kann man nur erleben, nicht erklären.“ Und jetzt wird’s spannend: „Das ist unser einzig wirkliches Geheimnis.“ Witte sei seit 18 Jahren Freimaurer, bei von Stern kommt noch ein gutes Jahrzehnt obendrauf: „Aber ich kann mich an die Aufnahme immer noch erinnern, als sei sie gestern gewesen – das ist immer noch ein erhebendes Gefühl.“

Und dieses Gefühl werde auch beim Kanzler der Hochschule bei jeder Aufnahme wieder neu hervorgerufen. „Es gibt ansonsten kein gemeinsames Programm, wir sind kein Dienstleister, man kann sich bei uns nicht die geistigen Schuhe besohlen lassen“, sagt von Stern. „Man kann Stoff geliefert bekommen, aber der wichtigste Prozess findet in mir statt.“ Damit seien die zwei wichtigsten Pole der Freimaurerei beschrieben, fügt Witte hinzu: „Das ist neben dem Gedankenaustausch im guten Sinn der Kern unserer Gemeinschaft, das rücksichtsvolle Miteinander.“

Das größte Freimaurer-Treffen der Geschichte fand im Jahr 1925 in Großbritannien statt: Beim „Million Memorial Festival“ kamen 7000 Teilnehmer unter dem Vorsitz des Herzogs von Connaught zusammen. Foto: Freimaurer-Wiki

Anleitung zur Freimaurerei (5): Lernt die Menschheit jemals dazu? Lesen Sie in der nächsten Folge der fünfteiligen Serie

Die Wanderschaft der Gesellen

„Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“, beliebte mein stellvertretender Chefredakteur der Prager Zeitung zu scherzen, wenn er beliebte Plattitüden des Journalismus aufs Korn nahm. „Und aller Anfang ist schwer.“ Die von der Tradition der Steinmetze übernommenen Grade bei den Freimaurern sind dagegen nur übertragen zu verstehen. „Auch die Lehrlinge sind erwachsene Menschen und oft gestandene Juristen, Unternehmer oder Handwerker“, sagt Logen-Mitgründer Ludwig von Stern.

Eine schöne Tradition haben die Freimaurer ganz konkret übernommen: die Walz. „Der Bruder Lehrling kann auch schon andere Logen besuchen, aber nicht allein, sondern er wird von seinem Bürgen mitgenommen“, erklärt Johannes Witte. „Die Gesellen aber schicken wir rum auf ihre Reisen.“ Das sei ein erhebendes Gefühl, die verschiedenen Logen kennenzulernen. „Jeder Meister vom Stuhl, jede Loge hat seinen eigenen Charakter.“ Der Bruder Meister hingegen dürfe alle Arbeiten besuchen und die Ämter führen.

„Wir müssen uns bemühen, gute Kandidaten zu finden“, fährt Witte fort, „weil sie damit Mitglied in der Weltbruderkette werden.“ Man stehe schließlich dafür gerade, dass der neue Bruder ein rechtschaffenes Mitglied ist, das jede Loge in dieser Welt besuchen dürfe. „Das ist bemerkenswert, weil man überall sehr herzlich und gastfreundlich aufgenommen wird.“ Ein Erlebnis, der ganz besonderen Art, findet auch von Stern: „Was mich so berührt, ist, wie unvoreingenommen man von fremden Menschen aufgenommen wird.“ Man habe das Gefühl: „Das sind Freunde höchster Qualität, wie Sandkastenfreunde – ein ungemeines Vertrauensverhältnis.“

Deswegen sei es aus Sicht der Loge eminent wichtig, dass bereits Lehrlinge die gegenseitigen Besuche erleben dürften, was etwa einmal im Jahr geschehe. „Wenn man aus anderen Gründen unterwegs ist“, ergänzt von Stern, „kann man in den Logenkalender gucken, und fragen, ob es an diesem Termin einen Arbeitsabend gibt.“ Witte sei in der Regel ein- bis zweimal im Jahr bei einer anderen Loge. Im Übrigen könne man auch Mitglied in mehreren Logen sein.

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