Bockboanig [ˈbɔkbaɪ̯nɪç]: Ode an das Mittelmaß

Nordoberpfalz. Ich beginne das Jahr mit einem Geständnis: "Ich bin halt einfach so mittel". Ich bin nicht schön, aber vielleicht ganz nett, kein Professor, aber auch kein Depp, kann mich trotz jeder Menge Übergewicht noch halbwegs auf dem Fußballplatz bewegen und meinen Graue-Maus-Style noch als "Vintage" verkaufen. Nicht der Burner, aber "passt schon". Eine vielleicht nicht sensationelle Glosse, aber insgesamt doch ganz okay.

Bin ich jetzt KI-optimiert besser? Foto: OberpfalzECHO/Andrea Schreiber

2024 wird definitiv ein optimales Jahr, dafür sorgen wir schon, denn schließlich ist Perfektion das Wichtigste im Leben. Gnadenlos pflügen wir deshalb in unserem Leben und auch in dem unserer Mitmenschen herum, schließlich wollen und müssen wir auch in diesem Jahr erfolgreicher, schöner, vitaler sein und selbst unser Darm muss weiter optimiert werden.

Müssen beziehungsweise möchten wir das alles wirklich? Geben wir 2024 doch einfach die Chance, ein mittelmäßiges Jahr zu werden. Kein Superlativ nach oben, aber auch nicht nach unten – halt einfach “irgendwie mittel”. So unwahrscheinlich es auch ist (wir können einfach nicht aus unserer Haut), aber würde uns das nicht vielleicht etwas Ruhe verschaffen und die eine oder andere Ressource für wirklich wichtige Dinge freimachen? “Scheiß di net oh”, so formuliert der Österreicher ebenso passend wie zielsicher seinen Appell an die Gelassenheit. Für die durchschnittlichen Bundesbürger ist auch das schon fast ein Affront, denn wie sollte man sich denn da nicht einkoten ob des Unbills des Daseins.

Einfach mal nett und freundlich sein und die Fünfe gerade sein lassen?

Aus dem gemütlichen Feierabend mit den Jungs, Spielen mit den Kindern oder Muttis Mädelsabend ist längst ein Lifestyle-Event geworden. Für die wichtigen – menschlichen – Sachen haben wir keine Zeit und aus irgendeinem unerklärlichen Grund ist es uns auch nicht mehr möglich, dem sprichwörtlichen alten Mütterchen über die Straße zu helfen (“Was soll mir denn das bringen”). Aber dafür bejubeln wir den aktuellen Höhenflug des DAX, obwohl doch kein normaler Mensch weiß, was das genau bedeutet und wer eigentlich etwas davon hat.

An allen Ecken und Enden optimiert es auf uns ein. Tatsächlich radeln wir uns Tag für Tag beruflich und privat in unserem Hamsterrad ab, schneller, immer schneller, ohne Rücksicht darauf, wie sehr dabei das Menschsein ins Hintertreffen gerät. Wie in einer Zentrifuge haut es dabei leider so etwas wie Werte, Anstand und Moral davon (ehemals wichtig, heute belächelt). Wer Work-Life-Balance sucht, kann sich halt nicht auch noch um Ehrenamt, Mitgefühl und Solidarität mit den Schwächeren kümmern.

Hex-hex – Coaching lautet das Zauberwort

Vielleicht sollte ich statt meiner Granteleien einen Ratgeber schreiben, denn die gehen immer weg wie geschnitten Brot. Statt einfach mal jemanden zu fragen, der an (Lebens-)Weisheit überlegen ist, greifen wir lieber auf B- und C-Promis zurück, die uns dann die Welt erklären (“Maschmeyers Darmatlas”). Auch das erklärt den Zustand unserer Gesellschaft.

Wem das alles immer noch zu mittelmäßig ist, der lässt sich einfach individuell coachen. Um nicht “irgendwie mittel” und damit von der “gesellschaftlichen Teilhabe” ausgeschlossen zu sein, haben wir Experten – und zwar für alles. Es gibt inzwischen tatsächlich sogar zertifizierte Life-Coaches und dank systemischem Coaching sind wir unendlich frei. Wenn es jetzt dabei noch Payback-Punkte gibt, sind wir auf dem besten Weg zum Glück.

Wiki weiß Bescheid

Systemisches Coaching bezeichnet ein Beratungsformat zur Unterstützung bei alltäglichen Fragen der persönlichen Lebensführung im beruflichen und privaten Bereich. Der Begriff Coaching wird als Sammelbegriff für unterschiedliche Settings verwendet (Einzelcoaching, Karrierecoaching, Teamcoaching, Businesscoaching, Projektcoaching).

Hier ein kleiner Auszug aus einem Beitrag zu einem 90. Geburtstag in der Region: „Aufrecht gehen, vorwärts schauen, gesund bleiben“, diesem Lebensmotto hofft XXX XXX auch künftig treu bleiben zu können und noch für lange Zeit Freude an Frühschoppen, Chormusik und handwerklichem Zeitvertreib haben zu dürfen.”

Klingt das schlecht? Nein, für mich ist das die Lösung. Diese Menschen können einem nach einem arbeitsreichen und rechtschaffenen Leben echte Weisheiten mitgeben, man muss nur zuhören. Doch leider sind die meisten unserer Seniorinnen und Senioren keine zertifizierten Coaches. Nach dem Selbstverständnis unserer Gesellschaft können sie einem deshalb eben keine Lebensweisheiten mitgeben. Schade eigentlich.

Work-Life-Balance – ein Leben im Einklang…

Wenn wir schon nach dem Ausgleich suchen, überlassen wir auch das selbstverständlich den Profis. Die rastlose Jagd nach individueller Work-Life-Balance ist dabei selbstverständlich so generalstabsmäßig geplant wie der Aufmarschplan Ost. Diese Form der Freizeitgestaltung gibt es exklusiv nur bei uns.

Die Natur sucht immer den Ausgleich, strebt zur goldenen Mitte, aber wir erheben uns als Krone der Schöpfung natürlich wieder darüber. Manchmal denke ich echt, es wäre schon ein Fortschritt, wenn wir zumindest mitunter unser Hirn mittelmäßig nutzen würden. Hand aufs Herz – in unserer Jagd nach Optimierung und Perfektion sind wir inzwischen spießiger, als es unsere Eltern und Großeltern je waren. Wollen wir das wirklich?

Auch ich stehe unter dem Verdacht, ein latenter Spießer zu sein. Foto: Ann-Marie Zell

Kunstvoll scheitern – kein Problem mit Fairplay

Die meisten Mitbürger denken sich: “Ich kann scheitern, solange alle anderen noch mehr scheitern”, denn Neid und Missgunst bestimmen inzwischen unsere Gesellschaft. Ein Begriff aus dem Sport ploppt hier bei mir dann immer wieder auf: Fairplay. Mein Gott, dann ist halt einer besser, dann hat halt einer mehr oder er hat schlicht und einfach Glück gehabt. Muss man den dann wegen einer nicht zurückgeschnittenen Hecke anonym beim Ordnungsamt anzeigen oder in den (a)sozialen Medien bloßstellen? Selbstverständlich muss man das, wo kämen wir denn da hin? Ja, wo kämen wir hin – wahrscheinlich einen guten Schritt voran. Wenn dieses “wir” nicht bedeuten würde, dass ja auch die anderen einen Schritt vorankommen …

Die Jagd nach dem Glück

Jetzt sind wir also optimiert – sprich glücklich und zufrieden. Glück bedeutet ein schöner Baum (“die Grünen wieder”), ein Kinderlachen (“Dieser Lärm in der Mittagszeit”) oder auch eine fleißige und nette Verkäuferin (“Na und, die wird ja bezahlt dafür”). Derartiger Käse ist in unserem durchgestylten Leben selbstverständlich nicht einmal mittelmäßig. Wo liegt also hier die Vernunft? Wahrscheinlich wieder mal in der Mitte.

Wie sollte man also das Jahr 2024 und vielleicht auch die folgenden angehen? Das alles lässt sich in einem Bild zusammenfassen. Dieses Bild möchte ich euch mitgeben, weil ich es selbst vor kurzem erlebt habe und absolut passend finde. Szene Fußballhallenturnier, ein Bambinispieler (6 Jahre) beißt nach einer 0:10-Niederlage lachend und voller Inbrunst in eine mächtige doppelte Wienersemmel. Fertig. Von Kindern lernen heißt fürs Leben lernen.

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