Kontrapunkt zum Ungeist der Pogromnacht: Vortrag über jüdisches Leben füllt Tirschenreuther Erlöserkirche

Tirschenreuth. Ein Licht in der Finsternis: Das Judentum lebt in Deutschland. Trotz des nazistischen Terrors der Pogromnacht, Fanal zur Ermordung von 6 Millionen europäischen Juden. Dorothea Woiczekowski-Fried füllt mit ihrem Vortrag über jüdische Feiertage und Traditionen eine Kirche.

Dorothea Woiczekowski-Fried ist glücklich, dass sich so viele Tirschenreuther für jüdisches Leben interessieren. Foto: Jürgen Herda

Alles ist vorbereitet. Dorothea Woiczekowski-Fried sitzt an ihrem kleinen Tischchen mit ihrem Manuskript, der Leselampe, dem kleinen Schatz jüdischer Bücher und Gegenstände, die sie als Anschauungsbeispiele mitgebracht hat. Die zierliche Frau in den 80ern ist startbereit.

Der Gemeindesaal der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde in Tirschenreuth ist bereits bis auf den letzten Platz gefüllt. Auch der Nebenraum platzt aus allen Nähten. Gemeindemitglieder tragen aus allen Richtungen Stühle herbei, aber der Strom der Besucher reiß nicht ab. Schließlich trifft Pfarrerin Stefanie Schön eine Entscheidung: „Es ist das Beste, wenn wir in die Kirche umziehen.“

„Das dürfen wir nicht zulassen“

Nachdem jeder der rund 100 Besucher auf den Bänken der Erlöserkirche einen Platz gefunden, die Heizung langsam ihre Arbeit genommen hat und die geduldige Referentin auf Altarhöhe platziert worden ist, ordnet die Pfarrerin den Vortrag für die Besucher ein: „Ohne das Judentum gäbe es uns Christen nicht, wir sind an dessen Stamm gewachsen.“

Auch deshalb sei es gerade in diesen Zeiten und an diesem Tag eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sich klar zu unseren jüdischen Mitbürgern zu bekennen und sich vor sie zu stellen: „Wir als Christen, dürfen gewisse Dinge nicht zulassen“, sagt Schön mit Blick auf die verstörenden Pro-Hamas-Demonstrationen nach den mörderischen Attacken der Terrororganisation und den inakzeptablen Drohungen und Übergriffen der vergangenen Tage.

Vortrag für alle Sinne

Das Interesse an jüdischem Leben ist ein wichtiges Zeichen, dass es auch den Tirschenreuthern nicht gleichgültig ist, wie sich Juden 85 Jahre nach der Pogromnacht, dem Auftakt zur Ermordung der europäischen Juden fühlen, wenn jetzt, hier und heute mitten in Deutschland Demonstranten Parolen brüllen, die zur Vernichtung Israels und der Juden auffordern. Die Veranstaltung feiert das Überleben dieses kleinen, immer wieder verfolgten Volkes, das gleichzeitig Glaubensgemeinschaft ist. Weltweit leben derzeit etwa 15 Millionen Juden – etwas mehr als die Bevölkerung Bayerns. In Deutschland gerade einmal 225.000 Menschen jüdischen Glaubens.

Damit das Verstehen jüdischer Traditionen nicht reine Kopfsache bleibt, hat Woiczekowski-Fried ihren Streifzug durch 3000 Jahre jüdische Geschichte seit Abraham, dem Begründer des Monotheismus, und ihren Überblick über die wichtigsten Feiertage und Riten als Fest für alle Sinne angelegt. Von den Konfirmations-Schülern in der ersten Reihe bis zu den Honoratioren auf den Seitenbänken schnuppern alle Besucher an wohlduftenden Hawdala-Gewürzen, die Pfarrerin Schön und Peter Süß, die gute Seele Dorotheas, mühsam in die prächtig verzierte Besamimbüchse füllten.

Dorothea Woiczekowski-Fried sitzt an ihrem kleinen Tischchen mit ihrem Manuskript, der Leselampe, dem kleinen Schatz jüdischer Bücher und Gegenstände, die sie als Anschauungsbeispiele mitgebracht hat. Foto: Jürgen Herda

Bücher, Teller und Gebäck machen die Runde

Neugierig werden einige Ausgaben der Haggada, der Erzählung und Handlungsanweisung für den Seder, einer Zeremonie am Erev Pessach, dem Vorabend des Fests der Befreiung der Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei begutachtet – besonders ein spanisches Faksimile, das Alexander Fried in Sarajewo entdeckt hatte, fasziniert die Kirchgänger. Sie kosten ungesäuerte Mazze, die beim Pessach-Fest zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten gereicht wird – die Fladen machen zusammen mit dem Pessach-Teller voller Symbole des harten Lebens in der Sklaverei die Runde.

Gesäuerte Challa wird an Neujahr in runder Form verzehrt, damit auch wirklich alles rund läuft. Von diesen – von fleißigen Helfern der evangelischen Gemeinde eilig zerteilten – Gebäckteilchen kosten die Hundert wie bei der wundersamen Mehrung genauso wie von den leckeren Sufganiyot, in Öl gebackene, mit Hiffenmark gefüllte Krapfen, die an Chanukka nicht nur den Kindern schmecken.

Pfarrerin Stefanie Schön und Bürgermeister Franz Stahl tauschen sich nach dem Vortrag angeregt aus. Foto: Jürgen Herda

Bürgermeister: „Eine wichtige Veranstaltung“

„Das ist eine wichtige Veranstaltung“, sagt Bürgermeister Franz Stahl am Rande des Vortrags zu OberpfalzECHO. Man kann sehr viel an Voreingenommenheit abbauen, wenn man mehr voneinander weiß. „Auch ich habe heute Abend viele neue Details erfahren, die ich noch nicht kannte – wie viele Ähnlichkeiten es auch zu unserer Religion gibt.“ Er gehe mit vielen neuen Eindrücken heim. „Wenn man sich den historischen Hintergrund vergegenwärtigt, versteht man auch besser, was in Israel passiert.“

Der katholische Pfarrer Georg Flierl hat einen persönlichen Bezug zum Ehepaar Woiczekowski-Fried: „Ich war zu Lebzeiten von Herrn Fried bei Ihnen eingeladen zum Sabbat, vielen Dank nochmal für dieses eindrückliche Erlebnis.“ Der Monsignore macht deutlich: „In der Verantwortung stehen wir, als Deutsche und als Christen.“ Aber gerade als Christ dürfe man kein Antisemit sein: „Der Stamm des Baums ist das Judentum, ohne den Vorgang der Heilsgeschichte im alten Bund gäbe es uns als Christen nicht.“

Vor dem Auszug aus dem Gemeindesaal und dem Umzug in die Kirche. Foto: Jürgen Herda
Vor dem Auszug aus dem Gemeindesaal und dem Umzug in die Kirche. Foto: Jürgen Herda
Dorothea Woiczekowski-Fried ist glücklich, dass sich so viele Tirschenreuther für jüdisches Leben interessieren. Foto: Jürgen Herda
Dorothea Woiczekowski-Fried ist glücklich, dass sich so viele Tirschenreuther für jüdisches Leben interessieren. Foto: Jürgen Herda
Damit das Verstehen jüdischer Traditionen nicht reine Kopfsache bleibt, hat Dorothea Woiczekowski-Fried ihren Streifzug durch 3000 Jahre jüdische Geschichte als Fest für alle Sinne angelegt. Foto: Jürgen Herda
Damit das Verstehen jüdischer Traditionen nicht reine Kopfsache bleibt, hat Dorothea Woiczekowski-Fried ihren Streifzug durch 3000 Jahre jüdische Geschichte als Fest für alle Sinne angelegt. Foto: Jürgen Herda
Damit das Verstehen jüdischer Traditionen nicht reine Kopfsache bleibt, hat Dorothea Woiczekowski-Fried ihren Streifzug durch 3000 Jahre jüdische Geschichte als Fest für alle Sinne angelegt. Foto: Jürgen Herda
Damit das Verstehen jüdischer Traditionen nicht reine Kopfsache bleibt, hat Dorothea Woiczekowski-Fried ihren Streifzug durch 3000 Jahre jüdische Geschichte als Fest für alle Sinne angelegt. Foto: Jürgen Herda
Damit das Verstehen jüdischer Traditionen nicht reine Kopfsache bleibt, hat Dorothea Woiczekowski-Fried ihren Streifzug durch 3000 Jahre jüdische Geschichte als Fest für alle Sinne angelegt. Foto: Jürgen Herda
Damit das Verstehen jüdischer Traditionen nicht reine Kopfsache bleibt, hat Dorothea Woiczekowski-Fried ihren Streifzug durch 3000 Jahre jüdische Geschichte als Fest für alle Sinne angelegt. Foto: Jürgen Herda
Zugegeben, ein wenig zwangsverpflichtet waren die Konfirmanden schon, gibt Pfarrerin Stefanie Schön zu. Aber dafür wirkten sie alle recht aufgeweckt. Foto: Jürgen Herda
Zugegeben, ein wenig zwangsverpflichtet waren die Konfirmanden schon, gibt Pfarrerin Stefanie Schön zu. Aber dafür wirkten sie alle recht aufgeweckt. Foto: Jürgen Herda
Ist es nicht manchmal schwierig mit den ganzen Essensregeln?  „Wir haben uns nicht so streng daran gehalten, aber das ist nicht so schlimm, man ist auch ein frommer Jude, wenn man das freier interpretiert.“ Foto: Jürgen Herda
Ist es nicht manchmal schwierig mit den ganzen Essensregeln? „Wir haben uns nicht so streng daran gehalten, aber das ist nicht so schlimm, man ist auch ein frommer Jude, wenn man das freier interpretiert.“ Foto: Jürgen Herda
Hier wird gerade Dorotheas Ehevertrag mit Alexander studiert. Foto: Jürgen Herda
Hier wird gerade Dorotheas Ehevertrag mit Alexander studiert. Foto: Jürgen Herda
Von wegen Kamel durch ein Nadelör: Pfarrerin Stefanie Schön rätselt noch, wie sie die Gewürze durch die kleine Öffnung in die Besamimbüchse schütten soll. Foto: Jürgen Herda
Von wegen Kamel durch ein Nadelör: Pfarrerin Stefanie Schön rätselt noch, wie sie die Gewürze durch die kleine Öffnung in die Besamimbüchse schütten soll. Foto: Jürgen Herda
Peter Süß (links), die gute Seele Dorotheas, und Pfarrerin Stefanie Schön füllen mühsam Hawdala-Gewürze in die kleine Besamimbüchse. Foto: Jürgen Herda
Peter Süß (links), die gute Seele Dorotheas, und Pfarrerin Stefanie Schön füllen mühsam Hawdala-Gewürze in die kleine Besamimbüchse. Foto: Jürgen Herda
Damit das Verstehen jüdischer Traditionen nicht reine Kopfsache bleibt, hat Dorothea Woiczekowski-Fried ihren Streifzug durch 3000 Jahre jüdische Geschichte als Fest für alle Sinne angelegt. Foto: Jürgen Herda
Damit das Verstehen jüdischer Traditionen nicht reine Kopfsache bleibt, hat Dorothea Woiczekowski-Fried ihren Streifzug durch 3000 Jahre jüdische Geschichte als Fest für alle Sinne angelegt. Foto: Jürgen Herda
Glauben Sie an das Paradies?
„So ganz glauben kann ich das nicht“, gesteht Dorothea Woiczekowski-Fried. 
Foto: Jürgen Herda
Glauben Sie an das Paradies? „So ganz glauben kann ich das nicht“, gesteht Dorothea Woiczekowski-Fried. Foto: Jürgen Herda
Eine fleißige Helferin der Evangelischen Gemeinde verteilt Sufganiyot, in Öl gebackene, mit Hiffenmark gefüllte Krapfen. Foto: Jürgen Herda
Eine fleißige Helferin der Evangelischen Gemeinde verteilt Sufganiyot, in Öl gebackene, mit Hiffenmark gefüllte Krapfen. Foto: Jürgen Herda
Auch die Konfirmanden zeigen nicht nur Interesse an den jüdischen Leckereien. Foto: Jürgen Herda
Auch die Konfirmanden zeigen nicht nur Interesse an den jüdischen Leckereien. Foto: Jürgen Herda
Auch die Konfirmanden zeigen nicht nur Interesse an den jüdischen Leckereien. Foto: Jürgen Herda
Auch die Konfirmanden zeigen nicht nur Interesse an den jüdischen Leckereien. Foto: Jürgen Herda
Eine schöne Ausgabe der Haggada, ein spanisches Faksimile, das Alexander Fried in Sarajewo entdeckt hatte, macht die Runde. Foto: Jürgen Herda
Eine schöne Ausgabe der Haggada, ein spanisches Faksimile, das Alexander Fried in Sarajewo entdeckt hatte, macht die Runde. Foto: Jürgen Herda
Der Pessach-Teller voller Symbole des harten Lebens in der Sklaverei wird begutachtet.  Foto: Jürgen Herda
Der Pessach-Teller voller Symbole des harten Lebens in der Sklaverei wird begutachtet. Foto: Jürgen Herda
Der Pessach-Teller voller Symbole des harten Lebens in der Sklaverei wird begutachtet.  Foto: Jürgen Herda
Der Pessach-Teller voller Symbole des harten Lebens in der Sklaverei wird begutachtet. Foto: Jürgen Herda
Eine schöne Ausgabe der Haggada, ein spanisches Faksimile, das Alexander Fried in Sarajewo entdeckt hatte, macht die Runde. Foto: Jürgen Herda
Eine schöne Ausgabe der Haggada, ein spanisches Faksimile, das Alexander Fried in Sarajewo entdeckt hatte, macht die Runde. Foto: Jürgen Herda
Dorothea Woiczekowski-Fried ist glücklich, dass sich so viele Tirschenreuther für jüdisches Leben interessieren. Foto: Jürgen Herda
Dorothea Woiczekowski-Fried ist glücklich, dass sich so viele Tirschenreuther für jüdisches Leben interessieren. Foto: Jürgen Herda
Hat das Judentum auch das Problem, dass immer mehr Menschen austreten? „Das ist mir nicht bekannt“, antwortet Dorothea Woiczekowski-Fried, „im 19. Jahrhundert konvertierten viele, weil sie wissenschaftliche Anerkennung suchten – wie mein Großvater, dem 1939 dennoch alles aberkannt wurde und der Suizid beging. Heinrich Heine ist ein Beispiel. Auch die Kinder von Josef Mendelssohn.“  Foto: Jürgen Herda
Hat das Judentum auch das Problem, dass immer mehr Menschen austreten? „Das ist mir nicht bekannt“, antwortet Dorothea Woiczekowski-Fried, „im 19. Jahrhundert konvertierten viele, weil sie wissenschaftliche Anerkennung suchten – wie mein Großvater, dem 1939 dennoch alles aberkannt wurde und der Suizid beging. Heinrich Heine ist ein Beispiel. Auch die Kinder von Josef Mendelssohn.“ Foto: Jürgen Herda
Der katholische Pfarrer Georg Flierl macht deutlich: „In der Verantwortung stehen wir, als Deutsche und als Christen.“ Foto: Jürgen Herda
Der katholische Pfarrer Georg Flierl macht deutlich: „In der Verantwortung stehen wir, als Deutsche und als Christen.“ Foto: Jürgen Herda
Pfarrerin Stefanie Schön und Bürgermeister Franz Stahl tauschen sich nach dem Vortrag angeregt aus. Foto: Jürgen Herda
Pfarrerin Stefanie Schön und Bürgermeister Franz Stahl tauschen sich nach dem Vortrag angeregt aus. Foto: Jürgen Herda
Wann beginnt der Sabbat in Norwegen, wenn die Sonne nicht untergeht?, möchte dieser Herr wissen. Dorothea Woiczekowski-Fried ist um keine Antwort verlegen:  „Dann wird es auch eine Lösung geben“ Foto: Jürgen Herda
Wann beginnt der Sabbat in Norwegen, wenn die Sonne nicht untergeht?, möchte dieser Herr wissen. Dorothea Woiczekowski-Fried ist um keine Antwort verlegen: „Dann wird es auch eine Lösung geben“ Foto: Jürgen Herda
Dorothea Woiczekowski-Fried ist glücklich, dass sich so viele Tirschenreuther für jüdisches Leben interessieren. Foto: Jürgen Herda
Dorothea Woiczekowski-Fried ist glücklich, dass sich so viele Tirschenreuther für jüdisches Leben interessieren. Foto: Jürgen Herda
Vor dem Auszug aus dem Gemeindesaal und dem Umzug in die Kirche. Foto: Jürgen Herda
Dorothea Woiczekowski-Fried ist glücklich, dass sich so viele Tirschenreuther für jüdisches Leben interessieren. Foto: Jürgen Herda
Damit das Verstehen jüdischer Traditionen nicht reine Kopfsache bleibt, hat Dorothea Woiczekowski-Fried ihren Streifzug durch 3000 Jahre jüdische Geschichte als Fest für alle Sinne angelegt. Foto: Jürgen Herda
Damit das Verstehen jüdischer Traditionen nicht reine Kopfsache bleibt, hat Dorothea Woiczekowski-Fried ihren Streifzug durch 3000 Jahre jüdische Geschichte als Fest für alle Sinne angelegt. Foto: Jürgen Herda
Damit das Verstehen jüdischer Traditionen nicht reine Kopfsache bleibt, hat Dorothea Woiczekowski-Fried ihren Streifzug durch 3000 Jahre jüdische Geschichte als Fest für alle Sinne angelegt. Foto: Jürgen Herda
Zugegeben, ein wenig zwangsverpflichtet waren die Konfirmanden schon, gibt Pfarrerin Stefanie Schön zu. Aber dafür wirkten sie alle recht aufgeweckt. Foto: Jürgen Herda
Ist es nicht manchmal schwierig mit den ganzen Essensregeln?, will der junge Mann wissen.  „Wir haben uns nicht so streng daran gehalten, aber das ist nicht so schlimm, man ist auch ein frommer Jude, wenn man das freier interpretiert.“ Foto: Jürgen Herda
Hier wird gerade Dorotheas Ehevertrag mit Alexander studiert. Foto: Jürgen Herda
Von wegen Kamel durch ein Nadelör: Pfarrerin Stefanie Schön rätselt noch, wie sie die Gewürze durch die kleine Öffnung in die Besamimbüchse schütten soll. Foto: Jürgen Herda
Peter Süß (links), die gute Seele Dorotheas, und Pfarrerin Stefanie Schön füllen mühsam Hawdala-Gewürze in die kleine Besamimbüchse. Foto: Jürgen Herda
Damit das Verstehen jüdischer Traditionen nicht reine Kopfsache bleibt, hat Dorothea Woiczekowski-Fried ihren Streifzug durch 3000 Jahre jüdische Geschichte als Fest für alle Sinne angelegt. Foto: Jürgen Herda
Glauben Sie an das Paradies?
„So ganz glauben kann ich das nicht“, gesteht Dorothea Woiczekowski-Fried. 
Foto: Jürgen Herda
Eine fleißige Helferin der Evangelischen Gemeinde verteilt Sufganiyot, in Öl gebackene, mit Hiffenmark gefüllte Krapfen. Foto: Jürgen Herda
Auch die Konfirmanden zeigen nicht nur Interesse an den jüdischen Leckereien. Foto: Jürgen Herda
Auch die Konfirmanden zeigen nicht nur Interesse an den jüdischen Leckereien. Foto: Jürgen Herda
Eine schöne Ausgabe der Haggada, ein spanisches Faksimile, das Alexander Fried in Sarajewo entdeckt hatte, macht die Runde. Foto: Jürgen Herda
Der Pessach-Teller voller Symbole des harten Lebens in der Sklaverei wird begutachtet.  Foto: Jürgen Herda
Der Pessach-Teller voller Symbole des harten Lebens in der Sklaverei wird begutachtet.  Foto: Jürgen Herda
Eine schöne Ausgabe der Haggada, ein spanisches Faksimile, das Alexander Fried in Sarajewo entdeckt hatte, macht die Runde. Foto: Jürgen Herda
Dorothea Woiczekowski-Fried ist glücklich, dass sich so viele Tirschenreuther für jüdisches Leben interessieren. Foto: Jürgen Herda
Hat das Judentum auch das Problem, dass immer mehr Menschen austreten? „Das ist mir nicht bekannt“, antwortet Dorothea Woiczekowski-Fried, „im 19. Jahrhundert konvertierten viele, weil sie wissenschaftliche Anerkennung suchten – wie mein Großvater, dem 1939 dennoch alles aberkannt wurde und der Suizid beging. Heinrich Heine ist ein Beispiel. Auch die Kinder von Josef Mendelssohn.“  Foto: Jürgen Herda
Der katholische Pfarrer Georg Flierl macht deutlich: „In der Verantwortung stehen wir, als Deutsche und als Christen.“ Foto: Jürgen Herda
Pfarrerin Stefanie Schön und Bürgermeister Franz Stahl tauschen sich nach dem Vortrag angeregt aus. Foto: Jürgen Herda
Wann beginnt der Sabbat in Norwegen, wenn die Sonne nicht untergeht?, möchte dieser Herr wissen. Dorothea Woiczekowski-Fried ist um keine Antwort verlegen:  „Dann wird es auch eine Lösung geben“ Foto: Jürgen Herda
Dorothea Woiczekowski-Fried ist glücklich, dass sich so viele Tirschenreuther für jüdisches Leben interessieren. Foto: Jürgen Herda

Kleines jüdisches Lexikon

Dorothea Woiczekowski-Fried hat zu Lebzeiten ihres Mannes Alexander „Schani“ Fried, der drei KZ und den Todesmarsch überlebte, eine Mission mit ihm geteilt: Den Holocaust aus der Perspektive der Überlebenden vor allem in Schulen zu schildern, damit dieses Menschheitsverbrechen für junge Menschen nicht nur abstrakte Geschichte bleibt.

Diesen Abend des 9. November, dem 85. Jahrestags der Pogromnacht, widmet sie ihrem im vergangenen Jahr verstorbenen Mann. „Ich bin eine einfache Jüdin“, sagt die ehemalige Kinderärztin, „kein Rabbiner, der das jahrelang studiert hat.“ Aber Doro hat ihre eigene Geschichte, die es allemal wert ist, erzählt und gewürdigt zu werden.

Die Geschichte eines kleinen Mädchens, dessen Großvater, ein begnadeter Wissenschaftler, konvertierte, um seine Familie zu schützen. Und deren Mutter überlebte, weil ihr Vater mit anderen Angehörigen jüdischer Ehepartner in der Berliner Rosenstraße demonstrierte, damit die Gattin freigelassen wird. Ein einzigartiger Aufstand der Mutigen während der Nazi-Tyrannei – mit Erfolg.

Dorothea, die Humanistin, die als Ärztin in Entwicklungsländern half und 2015 ohne Zögern Flüchtlinge aus islamischen Ländern betreute, erzählt in ihrer vornehmen Zurückhaltung nicht die eigene Lebensgeschichte. Sie schildert im Sinne ihres geliebten Schani jüdisches Leben, das trotz des nazistischen Rassenwahns in Europa wieder Wurzeln geschlagen hat.

Historische Stationen

Abraham und der Beginn des Monotheismus: Der älteste Bibeltext, der auf einer Tonscherbe gefunden wurde, stammt aus dem Jahr 1200 vor Christus: „Es ist der Segensspruch, der am Ende jedes christlichen Gottesdienstes gesprochen wird“, sagt Pfarrerin Stephanie Schön. „Erstaunlich, dass das so tief verwurzelt ist.“

Stammvater Abraham verlässt auf göttlichen Befehl Haran, führt ein Leben als Halbnomade, der Viehhaltung und Handel betreibt. Ende des 12. Jahrhunderts vor Christus werden die Nomaden sesshaft, siedeln im Nordreich Israel mit dem Tempel als religiösem Zentrum und dem Südreich Juda. In dieser Zeit entwickelt sich der Monotheismus mit El, dem einen und nicht sichtbaren Gott – in Abgrenzung zu den umliegenden Völkern mit ihren vielen Göttern. Ein langwieriger Prozess mit Rückfällen, die in der Bibel nachzulesen sind – Moses muss 40 Tage auf die Thora warten, das Volk wird ungeduldig und huldigt dem goldenen, sichtbaren Kalb. Am Ende dieses Prozesses steht das unsichtbare und unaussprechliche Konzept JHWH, das über 6800-mal in der Bibel erwähnt wird.

Exil und Diaspora: Nach der Zerstörung des Tempels 70 nach Christus durch die römischen Besatzer und dem Auszug der Oberklasse ins babylonische Exil, beginnt die fast 2000-jährige Leidenszeit als Volk ohne Zuflucht.

Jüdische Antike: Die im Neuen Testament verkannten Pharisäer leiten Reformen ein. Jesus ist ein typisch pharisäischer Jude, wie man an seiner Auslegung des Sabbats erkennt. An die Stelle von „Auge um Auge“ tritt monetärer Schadenersatz, die Todesstrafe wird massiv eingeschränkt, die Einführung von Synagogen schwächt die Bedeutung des Tempels und der Priester. Das Judentum ist keine Lehre der Unfehlbarkeit. An die Stelle des Tempels als zentraler Glaubensort tritt die Tora, die fünf Bücher Mose, in denen alle Gesetze niedergelegt sind. Die Tora bleibt durch all die Jahrhunderte das feste Band, das die über die ganze Welt verstreuten Juden zusammenhält.

Goldenes Zeitalter der Glaubenstoleranz: Im von den Arabern eroberten Spanien des frühen Mittelalters leben Moslems, Christen und Juden friedlich zusammen. Jüdische Gelehrte können frei wirken. Seit dem 8. Jahrhundert versuchen christliche Herrscher von Karl dem Großen bis Alfons XI., el Justiciero, der Rächer, König von Kastilien und León, die Moslems zurückzudrängen. Nach der blutigen Reconquista der iberischen Halbinsel durch christliche Truppen 1492, fliehen Sepharden, spanische Juden, nach Holland, Deutschland und Italien – unter anderem nach Venedig, wo das erste Ghetto, benannt nach einer dortigen, namensgebenden Gießerei entsteht. In deutschsprachigen Ländern ansässige Juden, die Jiddisch sprechen, fliehen nach christlichen Pogromen und Vertreibungen nach Osten, vor allem Polen, wo sie Aschkenasim genannt werden.

Jüdisches Leben

Der Lebenszyklus beginnt mit der Hochzeit: Die Zahl 7 spielt in der jüdischen Symbolik eine große Rolle, das Paar begleiten sieben Segenssprüche, die Frau umrundet den Bräutigam sieben Mal. Die Ketubba, der schriftlich niedergelegte jüdische Ehevertrag mit Rechten und Pflichten, wird verlesen: „Das ist mein Ehevertrag, den können Sie sich gern einmal ansehen“, lässt Dorothea ihre Ketubba die Runde machen.

Geburt: In der Henne-Ei-Logik folgen dann erst nach der Hochzeit die neugeborenen Kinder. Die Jungen werden beschnitten. Mit 13 feiern die Jungs ihre Bar-Mizwa und die Mädchen die Bat-Mizwa. „Mädchen werden bei uns nicht beschnitten“, betont die Kinder-Ärztin.

Gebote und Verbote: 613 göttliche Gebote und Verbote regeln das Leben streng gläubiger Juden. 50 davon beziehen sich auf das Essen. Unterschieden wird rein (koscher) und unrein (trefe) oder neutral. Warum man Fleisch und Milch nicht mischen darf, will eine Frau wissen: „Das Zicklein darf nicht in der Milch seiner Mutter gekocht werden“, liefert Doro eine Herleitung. „Da wir Vegetarier sind, spielte das für uns keine so große Rolle.“ Schweinefleisch ist verboten, Fische dürfen nur gegessen werden, wenn sie Schuppen und Flossen haben – weshalb Meeresfrüchte verboten sind. Die Reinigung der Hände vor der Mahlzeit ist für Juden seit jeher selbstverständlich: „Hygiene half während der Pest beim Überleben“, erzählt die Referentin. Weil die Europäer bis Robert Kochs Entdeckung keine Ahnung von gefährlichen Mikroorganismen hatten, bezichtigten sie die Juden der Brunnenvergiftung. Weil sie sich nicht erklären konnten, warum viele Juden die Seuche überlebten.

Die Feiertage

Sabbat: Der Sabbat, jiddisch Schabbes, beginnt mit der vorgeschriebenen Ruhezeit für Mensch und Tier – eine Errungenschaft, die die Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert erst mühevoll erkämpfen musste. Sie beginnt am Vorabend, wenn man im heißen Orient aufatmen konnte. Der Tisch ist festlich gedeckt, wie ein Altar mit zwei Sabbat-Kerzen und zwei Broten – weil es Gott laut Bibel bei der Wanderung durch die Wüste doppelt Manna regnen ließ. Nach dem Händewaschen, Gebet und Gesang wird zum Essen gerufen. Die Zahl der erlaubten Schritte ist begrenzt. „Und was ist, wenn ich mit dem Rad fahre“, will ein Konfirmand wissen: „Das spielt keine Rolle“ antwortet Doro. „Es geht um die Entfernung.“ Am Ende des Sabbats verabschiedet man sich und riecht an der mit Hawdala-Gewürzen gefüllten Besamimbüchse: „Dadurch soll man sich noch lange an die schönen Stunden des Sabbats erinnern.“ Der Feiertag ist zu Ende, und es beginnt der Alltag.

„Warum wird die Kerze 18 Minuten vor Sonnenuntergang angezündet?“, wundert sich ein Besucher.  „Weil man ansonsten 18 Minuten weniger Sabbat hätte“, erklärt die Vortragende. „Und wenn jemand Krankenschwester ist?“ Dorothea: „Dann hat die lebenserhaltende Arbeit Vorrang.“

Rosch ha-Schana: Der jüdische Neujahrstag, übersetzt „Haupt des Jahres“. Das Fest dauert 10 Tage – gemäß dem Auftrag „Tut Buße und gedenkt Eures Schöpfers“ – zehn Tage der Buße bis Jom Kippur, wenn final gerichtet wird. Dann schreibt Gott die Menschen in zwei Bücher, in das des Todes und das des Lebens ein. Man streut traditionell Brotkrumen in einen Fluss, um sich symbolisch der Vergehen des vergangenen Jahres zu entledigen. Man wünscht sich ein gutes Jahr: Ein traditioneller aschkenasischer Neujahrsgruß ist leschono tauwo tikossëiw „zu einem guten Jahr mögest du (in das Buch des Lebens) eingeschrieben sein“, der oft durch wessechosëim „und besiegelt“ ergänzt wird.

„Die Challa haben Sie jetzt gesehen“, erinnert Dorothea, „die ist an Neujahr rund, damit alles rund läuft, und man taucht sie genauso wie ein Stück Apfel in Honig, damit das neue Jahr süß werde.“ An diesem Tag wird das Schicksal jedes Einzelnen eingeschrieben und besiegelt.

Sukkot: Das Laubhüttenfest ist ursprünglich ein Erntefest, aber auch die Erinnerung an das Leben in der Wüste. Man baut Hütten, in denen man eine Woche lang isst und schläft. Am letzten Tag des Sukkot wird Simchat-Tora („Schönheit des Gesetzes“) gefeiert. Der Zyklus der Tora-Lesungen beginnt von Neuem mit dem ersten Buch Mose. „Wir hatten mal in der Spanischen Synagoge in Venedig erlebt, dass die uralten Tora-Rollen herausgeholt und herumgetragen wurden“, erzählt Woiczekowski-Fried. „Auch Alexander griff sich eine, ich hatte Sorge, dass er sie tragen können würde, aber hinter ihm ging ein guter Freund aus Prag, der geholfen hätte.“ So strahlend und glücklich habe sie ihn selten zuvor gesehen. „In schrecklicher Erinnerung wird die letzte Simchat-Tora bleiben, der 7. Oktober, der Tag des schrecklichen Massakers in Israel durch die Hamas.“

Chanukka: Der Name bedeutet „Weihung“ und wird zum Gedenken an die Wiedereinweihung des zweiten Tempels in Jerusalem im Jahre 164 vor Christus gefeiert. Acht Tage lang wird jeden Tag ein Licht mehr entzündet, weshalb man zu diesem Fest einen achtarmigen Leuchter, die Chanukkia, verwendet – deshalb nennt man es auch Lichterfest. „Nach einer späteren Überlieferung war aufgrund der Kämpfe mit den Seleukiden nur noch ein Krug geweihtes Öl übrig“, erzählt Dorothea, „dieses Öl hätte nur für einen Tag gereicht. Durch ein Wunder hat das Licht dennoch acht Tage gebrannt.“ Man sieht, nicht nur im Neuen Testament vermehren sich Dinge auf wunderbare Weise. Zum Dank wird an diesem Tag in Öl Gebackenes gegessen – Latkes, kleine, frittierte Kartoffelpuffer, und Sufganiyot, gefüllte Krapfen.

Purim: Das Purimfest, hebräisch von pur, Los, erinnert an die Rettung der Juden im Altpersischen Reich. Nach dem Buch Ester versuchte Haman, der höchste Regierungsbeamte des persischen Königs, die gesamten Juden im damaligen persischen Weltreich an einem Tag zu ermorden, weil sich Mordechai geweigert hatte, vor ihm zu knien. Sein Name wurde zum Symbol der Judenfeindschaft. Der genaue Zeitpunkt wurde durch das Los bestimmt – daher auch der Name Purim („Lose“). Mordechai befahl Ester, beim König vorzusprechen, den sie davon überzeugte, statt der Juden alle Unterstützer Hamans zu töten. Mordechai und Ester schrieben die Ereignisse ihrer Rettung auf, sandten einen Brief an die jüdischen Gemeinden in allen Provinzen und bestimmten, ihre Rettung in Zukunft mit dem Purim-Fest zu feiern. Beim Gottesdienst geht es meist nicht übermäßig ernst zu, die Festrolle des Buches Ester wird vorgelesen. „Immer wenn der Name Haman fällt, soll von den anwesenden Kindern mit Tuten, Rasseln und Ratschen so viel Lärm wie möglich gemacht werden“, erklärt Woiczekowski-Fried. „Außerhalb der Synagoge finden Purimspiele statt, vor allem die Kinder verkleiden sich, die Erwachsenen trinken viel Wein.“

Pessach: Das häusliche Pessach-Fest erinnert an den Auszug aus Ägypten. „Das Haus wird gesäubert von gesäuertem Brot“, erklärt Dorothea, „ein Symbol dafür, dass für das Gehenlassen des Sauerteigs vor der Flucht keine Zeit blieb, und man nur ungesäuertes Brot mitnehmen konnte.“ Der Engel des Todes sei am Tag der Flucht herumgegangen und habe die Ältesten Kinder der Ägypter getötet, damit man die Juden endlich ziehen lassen würde. Verschont habe er nur die Häuser, deren Eingang mit Blut eines geschächteten Schafs als hebräisch gekennzeichnet gewesen sei. „Der Pessach-Teller ist voller Symbole des harten Lebens in der ägyptischen Sklaverei“, zeigt sie ein Anschauungsbeispiel. Darauf legt man meist ein Ei als Zeichen der Fruchtbarkeit, ein Mus aus geriebenem Apfel, Wein und Rosinen als Symbol für den Mörtel, eine Schale mit Salzwasser und Bitterkräuter. „Das Wichtigste ist das ungesäuerte Brot, die Mazze, die geben wir jetzt auch herum.“ Man könne daraus leckere Speisen zaubern: „Sie in Schokolade tauchen, denn sonst schmecken sie wie Pappkarton.“

Shawuot: Shawuot (heuer am 12. Mai) ist im jüdischen Kalender nach Pessach und vor Sukkot das zweite von drei jüdischen Wallfahrtsfesten. Ursprünglich pilgerten die Gläubigen an diesem, auch Wochenfest genannten Feiertag nach Jerusalem, um die erste Ernte zu opfern. Shawuot symbolisiert den Wechsel vom Frühling zum Sommer, den Übergang von der Gersten- zur Weizenernte. „An Shawuot wird oft Milchiges gegessen“, erzählt Doro, „ich habe es im Kibbuz erlebt, wenn alles Neugeborene gezeigt wird, Zicklein und Lämmer genauso wie Mütter, die ihre Babys auf dem Arm zeigen.“

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